Odesa als Ort jüdischer Utopien

Interview mit Anna Misyuk, ehemalige Kuratorin des Literatur­museums Odesa

Blick aufs Meer, rechts ein Leuchtturm, im Hintergrund hohe Häuser.

Der Geist von Odesa entstand vor allem mit dem Hafen; Andris Malygin, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons, leicht beschnitten

Anna Misyuk, ehemalige Kuratorin des Literatur­museums Odesa (ukrainische Schreibweise), war am 23. Januar 2023 digital zu Gast im Jüdischen Museum Berlin, als Teil des Panels zu Odesa der Veranstaltungs­reihe Ukraine im Kontext. Im Interview gibt sie Einblicke in die jüdische Geschichte der Stadt, ihren besonderen Frei­geist, berühmte Literaten und die zionistische Bewegung vor Ort. Einen kurzen Ausschnitt aus dem Interview finden Sie auf dieser Seite auch als Video.

Odesa ohne Jüdinnen*Juden ist unvorstellbar.

Was ist Ihre persönliche Beziehung zu Odesa?

Ich wurde 1953 in Odesa geboren, direkt nach Stalins Tod. Ich hatte also einen glücklichen Start. Ich wuchs in Verbindung zur jüdischen Gemeinde, zur Synagoge, zu den Rabbinern auf. Zusammen mit anderen Schüler*innen hatte ich Unterricht an einer jüdischen Religions­schule, ging ins jüdische Kultur­zentrum und so weiter, über 30 Jahre lang.

Ich verbrachte meine Kindheit und Jugend in Odesa und machte meinen Abschluss am Gymnasium. Dann habe ich mich in Estland an der Universität von Tartu einge­schrieben. Das war ein Glücksfall, denn mein Professor Juri Lotmann war ein wahres Genie und eine Koryphäe der Literatur­wissenschaft, nicht nur in der Sowjetunion. Er war ein Ausnahme­mensch, und seine Ideen über Semiotik und literarische Struktur wurden auf der ganzen Welt rezipiert. Dann kehrte ich nach Odesa zurück, schloss dort mein Studium ab und fing 1979 an, für das Literatur­museum in Odesa zu arbeiten.

Juri Lotman (1922–1993)

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Können Sie uns mehr über das Literatur­museum Odesa erzählen?

Es war eine ganz neue Institution mit der brand­neuen Idee, ein Museum für lokale Kultur, für lokale Literatur zu gründen. Heute gibt es viele Museen für Heimat­literatur, doch Odesa war in dieser Hinsicht ein echter Pionier.

Dies ist ein neues Museum, also möchte ich jüngere Leute einstellen, die noch keine Angst vor den Behörden haben.

Es war sehr schwierig, den Anspruch Odesas auf ein solches Museum durchzu­setzen. Es gab lange Diskussionen mit den sowjetischen Behörden auf verschiedenen Ebenen, aber schließlich wurde das Museum eröffnet, und ich begann dort zusammen mit einer kleinen Gruppe anderer junger Frauen zu arbeiten. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist Museums­arbeit auch heute noch die Sache von Frauen. Der Gründungs­direktor unseres Museums sagte jedoch: Dies ist ein neues Museum, also möchte ich jüngere Leute einstellen, die noch keine Angst vor den Behörden haben.

Zeigt das Museum auch jüdische Autor*innen?

In Odesa entfalteten sich drei Strömungen jüdischer Literatur. An der Spitze der ersten Strömung stand Ossip Rabinowitsch, ein sehr interessanter und begabter Mann, der Anfang der 1850er-Jahre den Ideen von Moses Mendels­sohn anhing. Rabinowitsch ging es darum, das Judentum, das jüdische Leben und die jüdischen Traditionen in Odesa zu reformieren, aber eher im Sinne einer Akkulturation als einer Assimilation. In erster Linie, so sagte er, müssten wir unsere Geschichten erzählen und über unser Leben und unsere Gedanken in einer Sprache sprechen, die für unsere Lands­leute anderer ethnischer Gruppen verständlich ist. Er gründete die erste russisch­sprachige jüdische Zeitung in Odesa und begann, hervor­ragende Romane in glänzendem Russisch zu schreiben. Zu dieser Strömung jüdischer Literatur in Odesa gehörten ebenfalls Semjon Juschkewitsch, Wladimir Ze'ev Jabotinski, der Symbolist David Aizman und einige andere Schrift­steller*innen, die aber weniger bekannt sind.

Ossip Rabinowitsch (1817–1869)

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Semjon Juschkewitsch (1868–1927)

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David Aizman (1869–1922)

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Die zweite Strömung jüdischer Literatur in Odesa umfasste die jiddische Literatur, denn Jiddisch wurde in der Bevölkerung Odesas von vielen gesprochen. Einige Größen der jiddischen Kultur und Literatur, wie Scholem Alejchem und Mendele Moicher Sforim, ließen sich in Odesa nieder. Scholem Alejchem entwickelte dort seinen wunderbaren humorvollen Stil. In Odesa gibt es eine besondere Art von Humor, und wie viele andere würde auch ich sagen, dass Odesas Humor und jüdischer Humor Zwillinge sind. Und die dritte Strömung war Literatur in hebräischer Sprache.

Scholem Alejchem (1859–1916)

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Als wir auch jüdische Autor*innen in unseren Aus­stellungen berück­sichtigen wollten, stellte das ein gewaltiges Problem dar.

Ich mochte die Arbeit am Museum und die Zusammen­arbeit mit meinen Kolleg*innen. Es kam allerdings zu einer selt­samen Situation, als wir auch jüdische Autor*innen in unseren Aus­stellungen berück­sichtigen wollten. Das stellte ein gewaltiges Problem dar.

Natürlich waren viele der berühmten Schrift­steller*innen von Odesa jüdischer Herkunft, doch sie waren als sowjetische Schrift­steller*innen bekannt: Isaak Babel, Eduard Bagrizki, Ilja Ilf und viele andere. Aber bei jüdischen Autor*innen, die in der Tradition jüdischer Literatur standen, war es schwieriger. Beispiels­weise konnten wir die Bücher von Ossip Rabinowitsch erst in den 1990er-Jahren – nach dem Zusammen­bruch der Sowjetunion – in die Aus­stellung aufnehmen.

Isaak Babel (1894–1940)

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Eduard Bagrizki (1895–1934)

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Ilja Ilf (1897–1937)

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Es gelang uns, jiddische Bücher von Scholem Alejchem und Mendele Moicher Sforim in die Ausstellung aufzunehmen, aber dafür mussten wir lange Briefe an das Bezirks­komitee der Kommunistischen Partei schreiben, um es davon zu überzeugen, dass diese Autoren es verdienten, gezeigt zu werden. Das Komitee der Kommunistischen Partei erlaubte es zwar, gestattete den beiden aber nur eine kleine Ausstellungs­fläche. Noch heikler war es, als wir Bücher von Immi­grant*innen aufnahmen, von Autor*innen, deren Namen in der Sowjetunion verboten waren, aber wir bemühten uns, auch sie sichtbar zu machen.

Mendele Moicher Sforim (1835–1917)

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Wurde es später, nach dem Zusammen­bruch der Sowjet­union, einfacher?

Ende der 1980er-Jahre nahm Gorbatschow wieder diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Zum ersten Mal kam eine Delegation aus Israel in die Sowjet­union. Und sie besuchte Odesa. Es war kurz nach den ersten freien Wahlen in der Sowjetunion, und einige meiner Freund*innen wurden Abgeordnete im Stadtrat. Eine davon rief mich an und sagte: „Weißt du etwas über das Jewish Joint Distribution Committee?“ Ich antwortete: „Ja, das kenne ich.“ Ich war Teil der Dissidenten­bewegung gewesen. Mein Mann und ich hatten verbotene Bücher veröffentlicht und verbreitet, also wusste ich, was das Joint war. Ich wusste alles darüber. Sie sagte: „Oh, das ist gut. Und weißt du etwas über Yad Vashem?“ Ich sagte: „Ja, kenne ich“, woraufhin sie meinte: „Du bist vielleicht die einzige Person in Odesa, die weiß, was das ist.“

Joint Distribution Committee

Kurzform Joint, eine seit 1914 vor allem in Europa tätige Hilfs­organisation US-amerikanischer Jüdinnen*Juden
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Yad Vashem

Staatliche israelische Holocaust-Gedenkstätte
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Sie erzählte mir also, dass Ralph Goldman, der Präsident des Joint und eine lebende Legende, und der Direktor von Yad Vashem in Odesa wären und den Abgeordneten gesagt hätten, sie wollten jüdische Intellektuelle treffen, weil Odssa das Zentrum jüdischer Kultur sei. Meine Freundin hatte bereits Professor*innen, berühmte Maler*innen und Wissen­schaftler*innen jüdischer Herkunft angerufen, aber sobald diese die Worte „Israel“ und „Joint“ hörten, brachen sie das Gespräch ab. Sie sagte: „Du bist meine letzte Hoffnung. Vielleicht hast du ja keine Angst.“ Ich erwiderte: „Nein, ich habe keine Angst. Ich bin bereit, ihnen unser Museum und unsere Ausstellung zu zeigen und mit ihnen zu sprechen.“ Die anderen Leute, die meine Freundin angerufen hatte, waren alle älter, gehörten einer anderen Generation an. Daher konnten sie sich noch an die Zeit erinnern, als das „Joint“ und sogar jüdische Namen unter­drückt wurden, zu Beginn der 1950er-Jahre, vor meiner Geburt.

Erst in jenem Augen­blick begriff ich, in welchem Ausmaß die Sowjet­regierung die Geschichte der Jüdinnen*Juden und der jüdischen Kultur unter­drückt hatte.

Ich traf also diese Herren, zeigte ihnen das Museum, und ihre Reaktion war: „So ein wunder­bares Museum, so interessant, aber wo in Ihrer Ausstellung ist Jabotinski? Wo ist Simon Dubnow? Und wo ist Chaim Nachman Bialik?“

Ich schämte mich. Natürlich kannte ich Jabotinski, Bialik, Dubnow und andere. Aber ich wusste nichts über ihre Zeit in Odesa. Erst in jenem Augen­blick begriff ich, in welchem Ausmaß die Sowjet­regierung die Geschichte der Jüdinnen*Juden und der jüdischen Kultur unter­drückt hatte. Sie fragten: „Wie können wir Ihnen helfen?“ Ich antwortete: „Schickt uns Bücher.“ Kurz darauf trafen einige Pakete für das Museum ein. Es war ein historischer Moment, die Sowjet­union brach zusammen, und die Sonder­bestände der Bibliotheken wurden zugänglich gemacht, sodass wir die Gelegenheit bekamen, zu lesen und uns neues Wissen über die jüdische Kultur in Odesa, über die Geschichte der Jüdinnen*Juden in Odesa anzu­eignen. Es war Atlantis, Pompei.

Wladimir Ze'ev Jabotinsky (1880–1940)

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Simon Dubnow (1860–1941)

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Chaim Nachman Bialik (1873–1934)

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Hat sich dadurch der Charakter Ihrer Arbeit am Museum verändert?

Viele Menschen waren neugierig und wollten mehr über dieses Thema wissen, also beschloss ich, mich damit zu beschäftigen. Meine ersten Vorträge in den Vereinigten Staaten hielt ich 1990, unter anderem meinen ersten Vortrag über die Geschichte der Jüdinnen*Juden in Odesa. Danach baten mich viele Tourist*innen und Besucher*innen, ihnen die Stätten der jüdischen Geschichte in Odesa zu zeigen. So konzipierte ich die erste geführte Tour zu den Orten jüdischen Lebens in Odesa. Im Laufe vieler Jahre veröffentlichte ich Artikel und entwickelte einen besonderen Kurs für junge jüdische Fremden­führer*innen. Davor hatte ich nur Vorträge über jüdische Literatur gehalten, aber ich wusste nichts über Orte jüdischen Lebens. Also las ich von morgens bis abends und gab den Kurs. Ich dachte, dass die jungen Leute diese Themen und Fächer studieren und weiter­geben würden, und ich zu meinem Fachgebiet an der Universität – russische und ukrainische Literatur – zurück­kehren könnte. Aber diese Leute studierten, verteidigten ihre Dissertation und zogen dann in Länder wie Deutsch­land oder die USA. Auf jeden Fall verließen sie Odesa. Ich hingegen blieb und machte mit meiner Arbeit und meinen Aktivitäten weiter. Erst vor fünf Jahren bin ich in den Ruhe­stand gegangen und nach Israel gezogen, um bei meiner Tochter und meinen Enkelinnen zu sein.

Filmischer Ausschnitt aus dem Interview mit Anna Misyuk; Jüdisches Museum Berlin, 2023

Was macht den Geist von Odesa aus?

Der Geist von Odesa entstand mit der Stadt, vor allem mit dem Hafen von Odesa. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, nach hundert Jahren kriegerischer Auseinander­setzungen, siegte das Russische Reich über das Osmanische Reich. Zunächst gründete das Russische Reich andere Hafen­städte wie Sewastopol, Mykolajiw und Cherson als Festungen oder Militär­häfen. Doch irgend­wann hatten die Russen nicht mehr die Kraft, einen weiteren Militär­hafen zu errichten. Es war in Europa die Zeit nach der Revolution. Die Zeit neuer Ideen und neuer Lebens­formen. Deshalb sollte Odesa das Zentrum einer Puffer­zone zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich sein, und in dieser Zone sollten Menschen leben, die das Osmanische Reich nicht mochten. Ganz egal, ob sie die Russ*innen mochten oder nicht, vor allem sollten sie das Osmanische Reich nicht mögen.

Es dürfte sehr schwer sein, ein europäisches Land zu finden, das keinen Beitrag zu Odesa geleistet hat.

Daher forderten die russischen Behörden Menschen aus allen Ecken Europas auf, sich in dieser süd­ukrainischen Steppe am Schwarzen Meer nieder­zulassen. Die Griech*innen waren die ersten, die einge­laden wurden, weil sie das Osmanische Reich nicht mochten, gefolgt von Bulgar*innen, Serb*innen und vielen deutschen Um­siedler*innen – alle flohen vor den Napoleonischen Kriegen in Europa. (Die Deutschen, die kamen, waren Menno­nit*innen und daher Pazi­fist*innen.) Zu ihnen gesellten sich französische Aristo­krat*innen, die vor der Revolution flohen, sowie Italiener*innen und sogar Menschen aus den Vereinigten Staaten, von denen einer, George Sontag, die Leitung des Hafens von Odesa übernahm. Sie alle begannen ein neues Leben im Russischen Reich und erhielten Land im Süden. Es dürfte sehr schwer sein, ein euro­päisches Land zu finden, das keinen Beitrag zu Odesa geleistet hat.

Natürlich kamen auch viele russische und ukrainische Land­wirt*innen an diesen neuen Ort, diesen neuen Hafen. Regiert aber wurde die Stadt von französischen Aristo­krat*innen, und als Euro­päer*innen und Fran­zös*innen begeisterten sie sich für französische Philosophie und begannen, ein neuartiges Leben in der Stadt zu etablieren.

Warum ist Odesa ein zentraler Ort jüdisch-ukrainischer Kultur und jüdischer Utopien?

Obwohl Katharina die Große, die russische Zarin, es Jüdinnen*Juden untersagt hatte, sich in Odesa nieder­zulassen, umfasste jede Gruppe von Ein­wander*innen – ob sie nun aus Polen, Deutsch­land, Griechen­land oder Italien kamen – 10 bis 15 Prozent Jüdinnen*Juden.

Katharina die Große (1729–1796)

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Odesa wurde das offene Tor zu anderen Ländern.

Wladimir Ze'ev Jabotinski, der Odesa liebte, schrieb in einem seiner Bücher, dass der Gouvern€ von Odesa Menschen aus allen Gegenden der Welt eingeladen hatte, zu kommen und diese Stadt um ihres eigenen Glücks willen aufzubauen, für ihr Leben, so wie sie es verstanden. In meinen Augen stimmt das. Es war eine Stadt freier Menschen, eine Stadt voller Menschen, die sich aus freiem Willen entschieden hatten, dort zu leben, eine offene Stadt, offen zum Meer hin, eine Stadt der freien Winde.

Das Zentrum der Stadt war weder das Regierungs­gebäude noch eine Kathedrale oder ein Adels­palast. Vielmehr waren es das Theater und die Markt­plätze ... Von Anfang an war für alle in Odesa der öffentliche Raum der wichtigste Ort.

Leichte Wolken über türkis-blauem Meer, am vorderen Bildrand ein Stück Strand.

Odesa war eine offene Stadt, offen zum Meer hin, eine Stadt der freien Winde; Аліна Семенець, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Odesa verwaltete sich selbst – was für Städte im Russischen Reich sehr selten war –, ähnlich wie Warschau als Hauptstadt Polens und Riga als Zentrum des Ostseehandels. St. Petersburg wurde im Russischen Reich als Fenster nach Europa gebaut, aber bloß ein Fenster mit der gesamten russischen Bürokratie ... Odesa hingegen wurde das offene Tor zu den anderen Ländern.

In Odesa gehörten Jüdinnen*Juden zu den ursprüng­lichen Bewohner*innen.

Kurz, es war ein Ort mit gewissen Wider­sprüchen: ein anderer Ort, ein anderer Raum, ein anderer kultureller Geist. Und ab Mitte des 19. Jahr­hunderts begannen immer mehr Schrift­steller*innen und sogar Beamt*innen, diesen Geist von Odesa mit jüdischen Menschen und dem jüdischen Geist zu verbinden.

Mitte des 19. Jahr­hunderts, als Jüdinnen*Juden 27 Prozent der Bevölkerung aus­machten (im Vergleich zu 10 Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts), hatten sie wichtige Positionen in der Stadt inne und arbeiteten als Ärzt*innen, Bankiers, Händ­ler*innen, Hand­werker*innen und so weiter. Warum wuchs die jüdische Gemeinde in Odesa so schnell? In seinem Buch The Jews of Odessa: A Cultural History, 1794–1881 schreibt der US-amerikanische Historiker Steven Zipper­stein, dass die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Odesa eher der von San Francisco als der von Kiew ähnelt. Warum? In Odesa gehörten Jüdinnen*Juden zu den ursprüng­lichen Bewohner*innen. Es war eine Stadt der Ein­wander*innen und Um­siedler*innen, und Jüdinnen*Juden begannen, zusammen mit anderen, diese Stadt zu errichten und das Leben dieser Stadt zu entwickeln. Es war also ihre Stadt.

Odesa war auch ein wichtiges Zentrum der zionistischen Bewegung. Können Sie uns etwas über die Ideen von Achad Ha'am und Wladimir Jabotinski erzählen?

Gegen Ende des neun­zehnten Jahr­hunderts gab es in Odesa etwa 130 jüdische Bildungs­einrichtungen, die von Grund­schulen bis zu verschiedenen Arten von Hoch­schulen reichten. In dieser Zeit war Odesa nach St. Petersburg und Warschau im Russischen Reich die Stadt mit dem dritt­besten Bildungs­niveau, und wahr­scheinlich waren mehr als 70 Prozent der Schüler*innen und Studierenden jüdisch. Es gab also viele gebildete Menschen, und damit begeisterte Leser*innen. Deshalb kamen Schrift­steller*innen dorthin, weil sie Leser*innen um sich brauchen. Der junge hebräische Dichter Chaim Nachman Bialik war der erste, der mit seiner zionistischen Gesinnung nach Odesa kam, gefolgt von anderen Autor*innen wie Saul Tschernichowski.

1881 kam es im Russischen Reich zu einem umfang­reichen Pogrom, von dem Odesa dank der selbst organisierten Verteidigung der jüdischen Gemeinde und ihrer Unter­stützer*innen verschont blieb, aber die jüdische Bevölkerung in den Vorstädten hatte zu leiden.

Radierung: Porträt eines schnurrbärtigen Mannes im Anzug.

Max Liebermann, Porträt Chajim Nachman Bialik, 1923, Radierung auf Kupfer­tiefdruck­karton, 44 x 32,9 cm; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. GDR 91/503/0, Foto: Jens Ziehe. Weitere Informationen zu dieser Radierung finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Wir haben mit unseren eigenen Händen Steine als Fundament von Odesa gelegt, aber diese Steine begannen zu schreien: „Geht weg!“

Nach dem Pogrom sagte Leon Pinsker, eine der führenden Figuren der Haskala in Odesa, der auch unter seinem jiddischen Namen Leib und seinem russischen Namen Lev bekannt ist: „Nun reicht es.“ Er ging nach Berlin und veröffentlichte dort sein Buch Autoemancipation – und zwar auf Deutsch, weil er meinte, es sei unmöglich, ein Buch in der Sprache der Ver­folger*innen zu schreiben. In dem Buch sagte er, dass wir mit unseren eigenen Händen Steine als Fundament von Odesa gelegt haben, aber diese Steine begannen zu schreien: „Geht weg!“ Wir müssten aufhorchen, zuhören und verstehen, was es bedeutet, „wegzu­gehen“: in das einzige Stück Land zu gehen, das Haschem, Gott, dem jüdischen Volk versprochen hat.

Saul Tschernichowski (1875–1943)

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Leon Pinsker (1821–1891)

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Die Jüdinnen*Juden in Deutsch­land haben ihn nicht verstanden. Sie waren nicht daran interessiert, nach Eretz Israel zu gehen. Als Pinsker nach Polen kam, stieß er bei den polnischen Jüdinnen*Juden auf mehr Verständnis für seine Ideen, aber schließlich kehrte er nach Odesa zurück und gründete dort die erste zionistische Vereinigung. Natürlich kannte man damals den Begriff „Zionist“ noch nicht. Sie nannten sich selbst Palestino­philes: jene, die Palästina lieben.

Im Gegen­satz zu anderen zionistischen Organisationen jener Zeit, beispiels­weise der in Charkiw, die unter dem Dach von Tanz­clubs, Lese­clubs usw. agierten, trug Pinskers Vereinigung einen ein­deutigen, offiziellen Namen: Gesellschaft zur Unter­stützung jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien und Palästina. Sie war vierzig Jahre lang, bis in die 1920er-Jahre, tätig und ermöglichte Tausenden Menschen die Aus­wanderung nach Eretz Israel. Einmal zeigte ich einer Gruppe israelischer Studierender das Gebäude, in dem die Gesell­schaft tagte, und nannte ihnen die Namen einiger ihrer Mitglieder. Sie sagten: „Jetzt verstehen wir, woher die ganzen Straßen­namen bei uns kommen!“

1922 löste die neue Sowjet­regierung sämtliche zionistische Organisationen auf, verhaftete die Aktivist*innen und verbannte sie nach Kasachstan oder Sibirien. Das war das Ende der zionistischen Bewegung in der Sowjet­union und in Odesa.

Gruppenbild von zwölf uniformierten Männern, wobei die Person in der Mitte mit Brille, Stock und Mütze auf dem Schoss hervorsticht.

Ze'ev (Wladimir) Jabotinsky (1880–1940) mit Mitgliedern des 'Zion-Mule-Korps, 1915; Central Zionist Archives, Jerusalem

Eine Bemerkung noch zum Konflikt zwischen Achad Ha'am und Wladimir Ze'ev Jabotinski: Achad Ha-Am war ein Theoretiker. Es ging ihm um die jüdische Seele, um die Wieder­belebung des Gedanken­guts des Judentums, um die jüdische Mentalität. Er sagte, Eretz Israel brauche keine jüdischen Knochen, sondern jüdische Seelen. Im Gegen­satz dazu war Jabotinski sehr praktisch orientiert. Er sagte, der Aufenthalt im Russischen Reich sei für die Knochen der Jüdinnen*Juden, für ihre Körper, gefährlich. Vielleicht haben die gebildeten Jüdinnen*Juden Odesas dies nicht rational verstanden, aber sie begriffen, dass Jüdinnen*Juden zu einer Nation unter anderen Nationen werden mussten, da sie sonst verschwinden würden.

Achad Ha'am (1856–1927)

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Ist heute noch etwas von diesem Geist von Odesa übrig?

Heute haben wir eine andere Situation, denn Odesa hat sich in letzter Zeit stark verändert, und damit auch der Geist von und das Leben in Odesa. Jetzt, vor allem während des Krieges, während dieser feind­lichen Übergriffe ... Es ist unmöglich zu glauben, dass dies in unserer Zeit geschieht. Aber viele meiner Freund*innen in Odesa, ob ukrainisch oder russisch, haben das Gefühl, dass, wenn die Synagoge in Betrieb ist, wenn die Rabbiner nach Odesa zurückgekehrt sind, es eine Chance auf Stabilisierung gibt. Denn Odesa ohne Jüdinnen*Juden ist unvor­stellbar.

Das Interview führte Mirjam Bitter, Jüdisches Museum Berlin, Januar 2023.

Zitierempfehlung:

Mirjam Bitter (2023), Odesa als Ort jüdischer Utopien. Interview mit Anna Misyuk, ehemalige Kuratorin des Literatur­museums Odesa .
URL: www.jmberlin.de/node/9877

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