In der Ukraine lebte einst die zweitgrößte jüdische Bevölkerung Europas, unzählige Gemeinschaften, geprägt von vielen Einflüssen zwischen dem Zarenreich im Osten und der Habsburger Monarchie im Westen, von der säkularen Moderne in den Großstädten über das traditionstreue Schtetl, von der freien Handelsstadt Odesa am Schwarzen Meer bis zur intellektuellen Metropole Charkiw.
Parallel zu der Gesprächsreihe vor Ort im Museum gehen wir in diesem Online-Feature nach und nach relevanten Fragen zu Gegenwart und Geschichte der Ukraine aus jüdischer Perspektive nach.
Warum pilgern manche chassidische Jüdinnen*Juden in die Ukraine?
Die Ukraine war im 18. Jahrhundert Ausgangspunkt des Chassidismus. Rabbiner Nachman ist dort begraben und zieht jedes Jahr Chassidim aus der ganzen Welt an.
Mehr erfahrenWie hat sich das Leben der jüdischen Gemeinde in Charkiw durch den aktuellen Krieg verändert?
Interview mit Alexander Kaganovsky, Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde in Charkiw, der nach Hamburg geflüchtet ist
Video als LesetextWas zeichnet die Erinnerungskultur jüdischer Ukrainer*innen aus?
Der Versuch der Gründung eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats ist in der jüdischen Erfahrung mit antisemitischer Gewalt einhergegangen. Historikerin Franziska Davies fächert verschiedene Erinnerungskonflikte auf.
Mehr erfahrenWas können Sie uns als Autor und Zeuge der aktuellen Kriegsereignisse über jüdisches Leben in Charkiw sagen?
Interview mit Serhij Zhadan, Schriftsteller, Musiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2022 (Ukrainisch mit deutschen Untertiteln)
Video als LesetextWarum brachte das historische Czernowitz so viele berühmte jüdische Autor*innen hervor?
Die Habsburgermonarchie garantierte ihrer jüdischen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte. An ihrem östlichen Rand in der multilingualen Bukowina und ihrer Hauptstadt Czernowitz bildete dies die Grundlage für eine einzigartige Literaturlandschaft, über die Markus Winkler berichtet.
Mehr erfahrenWie geht die junge Literatur aus Tscherniwzi mit der jüdischen Literaturgeschichte der Stadt um?
Interview mit Oxana Matiychuk, Literaturwissenschaftlerin, Kulturmanagerin und Autorin einer Graphic Novel über Rose Ausländer über die Literaturszene in Czernowitz und der Bukowina heute
Video als Lesetext

Warum pilgern manche chassidische Jüdinnen*Juden in die Ukraine?
Im 18. Jahrhundert wurden Podolien und Wolhynien (heute vor allem in der Ukraine) zum Ausgangspunkt für den Chassidismus, eine mystische Bewegung, die im Kontext messianischer Erwartungen der Zeit stand. Der Chassidismus breitete sich über weite Teile Osteuropas aus. Heute gibt es überall auf der Welt chassidische Jüdinnen*Juden, für die die Ukraine ein wichtiger Ort ist. Im Städtchen Uman ist Rabbiner Nachman, einer der Begründer des Chassidismus, begraben. Jedes Jahr pilgern hier Zehntausende hin.
Kontext der Entstehung des Chassidismus war das Schtetl: kleine und mittelgroße Städte, in denen vor allem oder sehr viele Jüdinnen*Juden lebten und jiddisch gesprochen wurde. Ursprung dieser Siedlungen waren die Güter polnischer Adeliger, wo die jüdische Bevölkerung in Polen-Litauen viele Freiheiten genoss – ein Grund, warum die bäuerliche Bevölkerung, die in Ostpolen oft Ukrainisch sprach, Jüdinnen*Juden als Vertreter des polnischen Adels und damit ihrer Ausbeuter*innen wahrnahm. Das Leben im Schtetl war aber oft selbst von großer Armut geprägt. Gleichwohl war es ein Ort, der seine eigenen kulturellen Traditionen und Ökonomien hervorbrachte. Die neuere Forschung betont außerdem, dass das Schtetl bei weitem nicht so isoliert war, wie lange dargestellt. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine Schtetl-Literatur und die jiddische Literatur erlebte eine Blütezeit. Inzwischen ist das Schtetl zu einem mythischen Ort geworden, steht es doch für die Welt des osteuropäischen Judentums, die die Deutschen zerstört haben.
Text: Franziska Davies
Einen ausführlicher Hintergrundartikel von Franziska Davies über jüdische Geschichte der Ukraine finden Sie im JMB Journal #24.
Abbildung: Jakob Steinhardt, Tanzende Chassidim (Simacht Tora), Öl auf Leinwand, 1934; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. GEM 87/17/0, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin. Zum Gemälde in unseren Online-Sammlungen
Wie hat sich das Leben der jüdischen Gemeinde in Charkiw durch den aktuellen Krieg verändert?
Interview mit Alexander Kaganovsky, Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde in Charkiw, der nach Hamburg geflüchtet ist
Wie sah das jüdische Leben in Charkiw vor dem russischen Angriffskrieg aus?
Unsere Gemeinde gehört zu den dynamischsten in der Ukraine. Wir haben alle notwendige jüdische Infrastruktur. Es gibt eine Schule, einen Kindergarten, eine Synagoge. Es finden regelmäßig Gottesdienste statt, Feiertage werden zelebriert. Die neue Geschichte, die vor 30 Jahren mit der Ankunft des Hauptrabbiners Mojsche Moskowitsch begann, ist sehr ereignisreich. Es wurde vieles erreicht – das jüdische Leben in Charkiw ist wieder auferstanden.
Womit haben Sie sich in der Gemeinde befasst?
Als Vorsitzender der Gemeinde hatte ich ganz verschiedene Funktionen. Das ist zum einen die Kommunikation mit den Behörden, ich habe also die Gemeinde bei allen Behörden vertreten, oder zum Beispiel Einladungen für Besuch aus dem Ausland vorbereitet. Die ganze Tätigkeit der Gemeinde lief auf die eine oder andere Weise über mich.
Außerdem bin ich seit über 25 Jahren Chefredakteur unserer Zeitung Geulah. Es ist eine sehr gute Zeitung, die sehr beliebt ist, nicht nur in Charkiw. Menschen in der ganzen Welt lesen und abonnieren die Zeitung.
Wie geht es der Jüdischen Gemeinde von Charkiw jetzt?
Unser Hauptrabbiner ist nach Charkiw zurückgekehrt. Trotz einer sehr gefährlichen Lage kam er mit seiner ganzen Familie zurück. Es wurde natürlich Rosch ha-Schana gefeiert, alles, wie es sich gehört. Es gab sehr viele humanitäre Hilfspakete, die nicht nur an Jüdinnen*Juden verteilt wurden. Wirklich hunderte an Paketen. Wir helfen allen Einwohner*innen der Stadt und des Gebiets Charkiw, wir verteilen Lebensmittel.
Die Gottesdienste in der Synagoge fanden täglich statt und wurden kein einziges Mal ausgesetzt. Selbst wenn der Rabbiner nicht da war, fand der Gottesdienst regelmäßig statt, wie in guten Zeiten.
Die Gottesdienste gingen trotz Bombardierungen weiter?
Ja, ja, unter Bombardierungen. Viele Menschen fanden Zuflucht in der Synagoge, denn es war zu gefährlich, sich in der Stadt zu bewegen. Und es gab und gibt Menschen, die Gebete leiten können.
Als das Ganze losging, kamen Menschen in die Synagoge, die einen Unterschlupf vor Bomben gesucht haben, denn alle U-Bahnstationen waren bereits voll von Menschen, die sich vor Beschüssen und Bombardements versteckt haben. Es wurde jeder aufgenommen, der kam.
Insgesamt muss man sagen, dass die Gemeinde die schrecklichsten Prüfungen mit Bravour bestanden hat. Das Stadtzentrum wurde beschossen und die Synagoge liegt ganz in der Nähe. Im großen Saal sind alle Fenster geborsten. Dennoch versuchen alle Menschen aus Charkiw, wo auch immer sie sich befinden, unserer Gemeinde zu helfen – mit allen Kräften. Besonderer Respekt gilt denjenigen, die in Charkiw geblieben sind und diese kolossale Arbeit geleistet haben. Denjenigen, die ihre Arbeit fortsetzen, um den Einwohner*innen der Stadt zu helfen.
Wie kamen Sie nach Hamburg und wie geht es Ihnen dort?
Der Weg war kompliziert, es ging über die Westukraine und dann über Budapest. Als ich in Hamburg angekommen bin, habe ich sofort Kontakt mit dem Landesrabbiner von Hamburg, Rebbe Shlomo Bistritzky, aufgenommen, und der Jüdischen Gemeinde, deren Mitglieder uns sehr geholfen haben. Ohne sie hätten wir es nicht geschafft – ohne Sprachkenntnisse. Und weil alles ja so anders ist: andere Gesetze, andere Verhältnisse.
Wann sind Sie geflohen und warum haben Sie Hamburg ausgewählt?
Weil unser Rabbiner sich mit Rebbe Shlomo Bistritzky in Verbindung gesetzt hat und er hat es empfohlen.
Wir haben Charkiw etwas später verlassen. Zu Purim war ich bereits in Budapest. Dort waren wir fünf Tage und kamen nach Hamburg. Wir wollten erst nach Kiel, aber Rebbe Shlomo Bistritzky lud uns nach Hamburg ein.
Wie gefällt es Ihnen in Hamburg – in der Stadt und in der Gemeinde?
Wir haben Charkiw etwas später verlassen. Zu Purim war ich bereits in Budapest. Dort waren wir fünf Tage und kamen nach Hamburg. Wir wollten erst nach Kiel, aber Rebbe Shlomo Bistritzky lud uns nach Hamburg ein.
Wie gefällt es Ihnen in Hamburg – in der Stadt und in der Gemeinde?
Es ist eine wunderbare Stadt und eine wunderbare Gemeinde! Wir wurden sehr warmherzig empfangen. Wir bekamen sehr viel Hilfe und sehr viel Wärme, man spürt die Wärme, die von den Menschen ausgeht. Hamburg ist eine sehr schöne Stadt! Ich habe, ehrlich gesagt, nicht erwartet, dass die Stadt so grün und schön ist. Ich befasse mich erst einmal mit Behördengängen und Beschaffung von Papieren und dem Alltag. Die Alster und die Umgebung, das Stadtzentrum von Hamburg ist wunderschön.
Unterscheidet sich das jüdische Leben in Hamburg vom jüdischen Leben in Charkiw?
Alles ist ganz anders. Natürlich ist alles hier ganz anders. In Charkiw, da war die Gemeinde unsere Familie, wir haben sie alle zusammen aufgebaut. Hier kenne ich mich noch nicht so gut aus. Man sieht aber, dass die Gemeinde zusammenhält und gut organisiert ist. Es gibt ein geistiges Oberhaupt, das spürt man.
Unterschiede? Die Reihenfolge der Gebete ist etwas anders als bei uns in Charkiw. Es gibt einige Unterschiede. Aber insgesamt gibt es sehr viel Gemeinsames.
Helfen die Jüdischen Gemeinden in Deutschland den Geflüchteten aus der Ukraine?
Ja! Die Gemeinde hat sowohl bei der Beschaffung der Papiere als auch bei Behördengängen geholfen. Ohne diese Hilfe wären wir völlig aufgeschmissen gewesen. Gleich nach der Ankunft in Hamburg hat man uns in einem Hotel untergebracht. Das alles wurde eben dank der enormen Arbeit der Jüdischen Gemeinde Hamburg möglich.
Ihr Hauptrabbiner ist jetzt nach Charkiw zurückgekehrt. Erwägen Sie die Möglichkeit, zurückzukehren?
In Gedanken bin ich in Charkiw, wie gut es mir in Hamburg auch gehen mag. Ich habe der Gemeinde in Charkiw 30 Jahre meines Lebens gewidmet. Ich wünsche mir, dass endlich wieder Frieden ist und ich in meine Stadt zurückkehren kann.
Ich möchte allen ein gutes, süßes neues Jahr wünschen, Frieden, Wohlergehen, Gesundheit! Ich danke Ihnen!
Das Interview führte Sofya Chernykh. Jüdisches Museum Berlin, September 2022

Was zeichnet die Erinnerungskultur jüdischer Ukrainer*innen aus?
Der russische Angriffskrieg hat Debatten, wie unterschiedliche Erinnerungen innerhalb der Ukraine in Einklang gebracht werden können, erst einmal zum Erliegen gebracht. Jüdinnen*Juden kämpfen in den Reihen der Armee, und Präsident Wolodymyr Selenskyi, der selbst einen jüdischen Hintergrund hat, ist das wohl prominenteste Symbol für den Wandel des jüdisch-ukrainischen Verhältnisses seit Beginn des 20. Jahrhunderts.
Historisch allerdings war der Versuch der Gründung eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats in der jüdischen Erfahrung mit antisemitischer Gewalt einhergegangen. Ein großer Erinnerungskonflikt in der neuzeitlichen Geschichte ist der Aufstand des ukrainischen-kosakischen Hetman Bohdan Chmelnyckyj (1648̶̶̶̶ 1657) gegen Polen-Litauen. Bis heute gilt der Aufstand vielen in der Ukraine als erster großer Nationalaufstand; ungeachtet dessen, dass es dabei zu massiver Gewalt gegen Jüdinnen*Juden kam. Schätzungen zufolge lag die Zahl der jüdischen Todesopfer während des Aufstands bei etwa 18.000 Menschen, fast die Hälfte der damaligen jüdischen Bevölkerung in der Ukraine.
Die größte Katastrophe für das jüdisch-ukrainische Verhältnis waren dann die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie fast alle europäischen Nationalbewegungen war auch die ukrainische von Antisemitismus geprägt: Ukrainische Nationalist*innen stellten Jüdinnen*Juden als die Ausbeuter des ukrainischen Volkes dar. Diese alten Vorurteile aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit verbanden sich mit neuen Stereotypen über Jüdinnen*Juden als angebliche Profiteure des Kapitalismus, aber erst in den 1920er und 1930er Jahren wurde radikaler Antisemitismus zu einer der einflussreichsten Strömungen im westukrainischen Nationalismus. In der Zentral- und Ostukraine wurden im postimperialen Bürgerkrieg nach dem Zusammenbruch des russischen Zarenreichs Jüdinnen*Juden massenhaft zu Opfern antijüdischer Gewaltakte. In der Westukraine kooperierte die 1929 in Wien gegründete Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) ab 1941 mit den NS-Besatzern aus Deutschland. Auch nachdem OUN-Führer, darunter Stepan Bandera, von den Nazis verhaftet wurden, stellten sich noch viele OUN-Mitglieder der SS als lokale Hilfspolizisten zur Verfügung und halfen, Jüdinnen*Juden zu identifizieren und sie ihren Mördern zu überstellen.
Wie in allen Republiken der Sowjetunion wurde auch in der Sowjetukraine, die durch die territorialen Verschiebungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs nun auch die Westukraine umfasste, die Erinnerung an den Holocaust unterdrückt. Aber nach Stalins Tod, im so genannten „Tauwetter“ der späteren 1950er- und frühen 1960er-Jahre, geriet diese staatliche Unterdrückung der Erinnerung an ihre Grenzen. Zum 25. Jahrestag des Verbrechens in der Schlucht von Babyn Jar, heute Teil des Stadtgebiets von Kyjiw, wo das größte Einzelmassaker an sowjetischen Jüdinnen*Juden stattfand, gab es eine größere Gedenkveranstaltung, an der auch nicht-jüdische Ukrainer*innen teilnahmen und sich solidarisierten. Das zu Sowjetzeiten errichtete Denkmal in Babyn Jar erwähnte aber nicht, dass die allermeisten hier ermordeten Menschen jüdisch gewesen waren. Erst in der unabhängigen Ukraine seit 1991 wurde es möglich, offen über den Holocaust in der Ukraine zu sprechen, ihn zu erinnern und zu erforschen.
Immer noch ist es so, dass der Holodomor, jene von Stalin und seinen Gefolgsleuten verursachte Hungersnot zu Beginn der 1930er-Jahre, die sich in der Ukraine auch massiv gegen die Idee der Ukraine als Nation richtete, eher als das „eigene“ Trauma gilt, der Holocaust als die „andere“, die jüdische Tragödie.
Text: Franziska Davies
Einen ausführlicher Hintergrundartikel von Franziska Davies über jüdische Geschichte der Ukraine finden Sie im JMB Journal #24.
Abbildung: Die erste ukrainische Briefmarke gedenkt des Nationalaufstands der Kosaken. Ukrainischer Briefumschlag; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2022/23/0, Schenkung von Leonid Dolgopiat
Was können Sie uns als Autor und Zeuge der aktuellen Kriegsereignisse über jüdisches Leben in Charkiw sagen?
Interview mit Serhij Zhadan,
Schriftsteller, Musiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2022
Können Sie uns etwas über jüdisches Leben in Charkiw erzählen?
Ich kann eher darüber sprechen, wie sich die Selbstwahrnehmung vieler Charkiwer, vieler Ukrainer*innen heute verändert, wie sich die Beziehung zum eigenen Land verändert, unabhängig von Nationalität. Ich sehe zum Beispiel, wie viele ukrainische Jüdinnen*Juden heute und in den letzten Jahren die Ukraine unterstützen. Sie versuchen wirklich, sich mit diesem Land zu identifizieren, mit der Zukunft dieses Landes, und sich der russischen Besatzung zu widersetzen. Das ist etwas Neues, das sind wirklich große Veränderungen im Leben des Landes und der Gesellschaft. Denn wenn man sich an die 1990er-Jahre erinnert, oder auch an die 2000er, hat die jüdische Gemeinde damals – wie beispielsweise auch die ethnischen Russ*innen oder andere Minderheiten – ihr eigenes Leben gelebt, sie haben sich nicht immer mit der Ukraine identifiziert, mit dem ukrainischen Staat.
Dagegen ist es heute ganz anders: Heute ist die ukrainische Gesellschaft sehr vereint. Heute versuchen die Ukrainer*innen, die Jüdinnen*Juden, die ethnischen Russ*innen, die Krimtatar*innen und auch andere Nationalitäten, die in der Ukraine leben oder die Staatsbürgerschaft haben, die Ukraine gemeinsam zu verteidigen.
Deshalb, wenn die russische Propaganda versucht, diesen Krieg, diese Invasion mit dem Narrativ und der Idee der „Entnazifizierung“ zu begründen, indem sie sagt, dass in Kyjiw Nazis an der Macht sind, dass die ukrainische Gesellschaft von der Nazi-Ideologie geleitet wäre, ist das eine große Lüge. Das ist einfach nicht wahr. Gerade wir Ukrainer*innen zeigen ja heute, dass wir uns vor allem um die Idee der Ukraine als Staat vereinigen, ungeachtet unserer ethnischen Zugehörigkeit, dass all diese Menschen heute eine richtige politische Nation sind, wir sind alle Ukrainer*innen, die ihr Land verteidigen. Mich macht es besonders wütend; es ist unangenehm, das hören zu müssen. Warum? Weil ich seit 30 Jahren in Charkiw lebe.
Charkiw ist eine wirklich multinationale Stadt, eine offene Stadt, ich habe ja auch heute im Podium darüber gesprochen. Ganz unterschiedliche Nationalitäten haben in Charkiw immer sehr gut und friedlich zusammengelebt, sie liebten diese Stadt und lieben sie auch weiterhin. Als der Krieg angefangen hat, fingen viele Charkiwer an, für den Sieg zu arbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen. Ich habe viele Bekannte in der jüdischen Gemeinde in Charkiw, und die betrachten sich nicht als etwas Separates, sie sind mit den Ukrainer*innen einig, sie fühlen sich diesem Land zugehörig, vor allem weil sie verstehen, dass das ihr Land ist, das es heute zu verteidigen gilt.
Was können Kunst und Kultur in der aktuellen Situation ausrichten?
Literatur kann zum einen alles festhalten, was um uns herum passiert. Schriftsteller*innen können als Zeug*innen der Ereignisse fungieren. Ich glaube, das ist eine der Aufgaben von Kultur, ihre Funktion, und diese Funktion ist eine sehr wichtige.
Zum anderen ist Kultur sozusagen ein Raum, in dem wir uns immer halbwegs normal und ausgeglichen fühlen. So oder so verbinden wir Kultur mit einer Normalität des Lebens, mit Bildung, mit unserem Background, mit unserer Erziehung. Deshalb ist es für die Menschen – egal, ob sie an der Front oder tief im Hinterland sind – auch heute wichtig, Musik zu hören, Bücher zu lesen und zu wissen, dass es diese kulturelle Komponente gibt, dass es dieses große Feld der Kultur gibt.
Ihr nun auf Deutsch erscheinendes Buch Himmel über Charkiw besteht aus Ihren Facebook-Einträgen im Krieg. Glauben Sie, dass das Ihr zukünftiges Schreiben beeinflussen wird?
Nein, wie soll man das sagen… ich glaube nicht, dass dieser Facebook-Stil mein Schreiben groß beeinflussen wird. Es war keine literarische Erfahrung für mich. Es war eher eine soziale Erfahrung: Ich habe einfach versucht, alles festzuhalten, was mit mir gerade passiert. Ich habe dieses Tagebuch nicht geschrieben, um daraus ein Buch zu machen. Die Idee mit dem Buch kam später. Es war in dem Moment einfach wichtig, sich später an diese Ereignisse erinnern zu können, um all das nicht zu verlieren.
Und wie unsere Literatur künftig aussehen wird? … Da bin ich, ehrlich gesagt, nicht bereit, Prognosen zu machen. Es ist noch zu früh, darüber zu sprechen, weil wir jetzt inmitten eines großen, dramatischen und auch blutigen Umbruchs stecken. Wir sollten vor allem selbst überleben und auch unser Land bewahren, damit wir eine Zukunft haben können.
Das Interview führte Mirjam Bitter; Jüdisches Museum Berlin, Okt 2022
Einen Mitschnitt der Veranstaltung mit Serhij Zhadan am 9. Oktober 2022 finden Sie in Kürze in unserer Mediathek.

Warum brachte das historische Czernowitz so viele berühmte jüdische Autor*innen hervor?
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Czernowitz als Hauptstadt der multilingualen Bukowina am östlichen Rand der Habsburgermonarchie zu einer Stadt mit allen administrativen und kulturellen Attributen einer österreichischen k. u. k. Landesmetropole. Fernab von Wien gelegen, war Czernowitz ein Ort, an dem große jüdische, deutsche, ukrainische, rumänische und polnische Bevölkerungsgruppen beheimatet waren. Der jüdischen Bevölkerung wurden hier die vollen Bürgerrechte garantiert, was sie politisch und kulturell zur Entfaltung kommen ließ.
Es gibt zahlreiche jiddische Arbeiten, aber auch hebräische Werke, verfasst von Autor*innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel auswanderten, wie Aharon Appelfeld (1932–2018) oder Manfred Winkler (1922–2014). Der Großteil der Czernowitzer jüdischen Literatur entstand jedoch auf Deutsch, und die Lyrik und das Leben von Paul Celan (1920–1970), Rose Ausländer (1901–1988) oder Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942) rufen bis heute Interesse hervor.
Es waren mehr als fünfzig Autor*innen, die ab den 1930er-Jahren in den lokalen Zeitungen veröffentlichten, ihre Erstlingswerke herausbrachten und – abgekoppelt von Wiener Einflüssen – erstmals eine eigenständige, modernistische Bukowiner Literatur begründeten. Das oftmals beschriebene Inselphänomen „Bukowina“ und die Begrenzung des kommunikativen Raums beförderten in dieser kurzen Zeit vor dem Krieg dichterische Begegnungen, die mit der Ghettoisierung, den Deportationen und dem Tod zehntausender Bukowiner Jüdinnen*Juden in den Lagern Transnistriens und jenseits des Südlichen Bug in den Jahren 1941–1944 tragisch zu Ende gingen.
Nach 1945 wurde diese Literaturlandschaft neu geschaffen und erweitert durch die Czernowitzer Exilant*innen in Israel, Deutschland, USA, Rumänien oder Frankreich, wobei nun die Erfahrungen als Überlebende, als Ortssuchende und als Erinnernde in ihr dichterisches Werk eingingen.
Seit 1991 ist Czernowitz/Tscherniwzi eine ukrainische Stadt, in der das historische und literarische Erbe nicht nur erinnert, sondern in transkulturellen Projekten auf die Gegenwart und Zukunft bezogen wird.
Text: Markus Winkler
Einen ausführlichen Artikel von Markus Winkler über Czernowitz und die jüdische Literatur finden Sie im JMB Journal #24.
Abbildung: Andree Volkmann, Porträt Paul Celan (1920–1970), 2020; Jüdisches Museum Berlin
Wie geht die junge Literatur aus Tscherniwzi mit der jüdischen Literaturgeschichte der Stadt um?
Interview mit Oxana Matiychuk, Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin in Tscherniwzi/Czernowitz
Welche Beziehung haben Sie zur jüdischen Literatur aus Czernowitz?
Ich bin Oxana Matiychuk. Ich komme aus Czernowitz, und ich bin in mehrfacher Funktion unterwegs: Zum einen bin ich Dozentin für Literaturgeschichte an der Universität Czernowitz. Zum anderen bin ich im International Office der Universität tätig. Darüber hinaus leite ich den Kulturverein in Czernowitz mit dem offiziellen Namen Deutsch-ukrainische Kulturgesellschaft, Partner des Goethe-Instituts. Sowohl in meinem Beruf als auch in meinem Kulturmanagement habe ich zwangsläufig sehr viel mit Literatur zu tun. Und ich habe meine Dissertation auch zur jüdischen deutschsprachigen Literatur der Bukowina geschrieben.
Können Sie uns etwas über die heutige Literaturszene von Czernowitz erzählen?
Die Literaturszene ist wirklich sehr lebendig. Es gibt ein paar Autor*innen, die auch schon international bekannt sind. Zum Beispiel Chrystja Wenhrynjuk ist übersetzt, z.B. Maxym Dupeschko ist auch in einige Sprachen übersetzt. Und als Literaturdozentin kenne ich unter noch Studierenden ein paar Stimmen, die ganz sicher in der Zukunft berühmt werden – oder berühmt werden können, also auf jeden Fall sehr große Begabungen.
Welche Rolle spielt das jüdische literarische Erbe für die jungen Autor*innen?
Ich merke, dass vor allem diejenigen, die selbst den Anspruch haben, literarisch tätig zu sein, oder auch künstlerisch unterwegs sind – es muss ja nicht unbedingt Literatur sein –, dass sie sich gerade für die Literatur, die vor 1940 entstanden ist, interessieren. Anders gesagt: Sie interessieren sich für die Literatur der Bukowina, die im Westen ein Stück Literaturgeschichte, teilweise auch des Kanons geworden ist.
Und dazu tragen verschiedene Faktoren bei: zum Beispiel das Literaturfestival Meridian Czernowitz. Der Name sagt schon sehr deutlich, dass der Bezug zu Paul Celan da ist, zu einer seiner Reden. Und weil es zum Glück sehr viel Übersetzungen gibt, vor allem dank dem Übersetzer und Professor Peter Rychlo, können auch diejenigen, die kein Deutsch sprechen, rezipieren. Denn um darüber zu reflektieren, muss man zuerst rezipieren.
Da ist die Gesamtausgabe von Paul Celans Werken präsent. Von Rose Ausländer gibt es viele Übersetzungen. Es gibt die Übersetzungen von Selma Meerbaum-Eisingers Werk. Also wirklich sehr sehr viel, dank dem unermüdlichen Peter Rychlo. Und es gibt Bezüge auf die Autor*innen, auf die Texte, in ihren Texten, ich meine in den Texten von jungen Autor*innen.
Es sind darüber hinaus sehr viele Kunstprojekte, die dieses reichhaltige literarische Erbe aufgreifen. Und da merken wir, weil wir auch – vor dem großen Krieg zumindest – viel Kulturmanagement gemacht haben, wie viel Potential gerade in der multinationalen, multilingualen Literatur der Bukowina ist. Wir haben auch in unserer NGO viele Projekte, die entweder mit Rose Ausländers oder Paul Celans oder auch Selmas Werk zu tun hatten. Das ist wirklich eine unerschöpfliche Quelle an Ideen, an Impulsen und auch an Inspiration.
Spielt auch die jiddisch- und hebräischsprachige Literatur eine Rolle?
Das leider weniger. Aus dem Grund, weil es aus dem Jiddischen so gut wie keine Übersetzungen gibt. Das Jiddische stirbt leider aus in der Bukowina. Es gab bis vor wenigen Jahren sogar noch eine Sendung auf Jiddisch: Das jiddische Wort. Aber inzwischen sind die letzten jiddischsprachigen Czernowitzer*innen leider tot. Deswegen wartet die jiddische Literatur, zum Beispiel die großartige Literatur von Itzik Manger, von Elieser Steinbarg auf ihre Übersetzer*innen. Es gibt einfach noch zu wenig, das rezipiert werden könnte.
Aus dem Hebräischen wurde zum Beispiel sehr gut Aharon Appelfeld übersetzt. Und seine Werke, die es auf Ukrainisch gibt, oder auch auf Deutsch, werden durchaus rezipiert.
Wie hat sich Czernowitz als Topos der Literatur verändert?
Ich merke, dass es in den letzten Jahren Versuche gibt, die Geschichte von Czernowitz nicht nur aus einer Perspektive, wie das früher war – z. B. aus der ukrainischen oder aus der rumänischen oder eben der jüdischen – zu verarbeiten. Sondern zum Beispiel macht Maxym Dupeschko mit seinem Roman, der einen langen Titel hat – auf Ukrainisch: Die Geschichte, die eines ganzen Apfelbaumgartens wert ist – in der jüngsten Geschichte den ersten Versuch, multiperspektivisch die Vergangenheit von Czernowitz aufzuarbeiten. Wirklich ein sehr spannender Versuch.
Aber ich merke es auch in den Gedichten, irgendwie sind es ganz viele kurze Formen, ganz viel Lyrik wird geschrieben. Auch bei der jüngsten Generation gibt es tatsächlich die Bezüge, die Versuche, über die Vergangenheit zu sprechen, über die Autor*innen, über die Kunst zu sprechen. Aber das ist wirklich die jüngste Entwicklung. Ich glaube, man hat die Zeit gebraucht, um sich dieser Geschichte anzunähern, bevor man darüber sprechen kann.
Was finden Sie in Bezug auf die ukrainische Literatur aktuell besonders bemerkenswert?
Es gibt angesichts dieses Krieges ja sehr verschiedene Prozesse, die auch im Kunstbereich stattfinden. U.a. sind viele russischsprachige Autor*innen im Konflikt mit ihrer Muttersprache, mit dem Russischen. Und dazu gibt es auch sehr spannende – also wenn man das Tragische weglassen würde – interessante Auseinandersetzungen mit dem Russischen als Muttersprache. Zum Beispiel von Wolodymyr Rafejenko, zum Beispiel von Iya Kiva zum Beispiel von Lyuba Yakymchuk. Das sind alles sehr bekannte Autor*innen, die meistens aus dem Osten der Ukraine stammen und die sich plötzlich in der Situation finden, dass ihre Muttersprache zur Sprache der Mörder geworden ist.
Man kann nicht umhin, Parallelen dazu zu sehen, wie es für die jüdische Bevölkerung, auch für die jüdischen Schriftsteller*innen 1941 plötzlich war. Viele Jüdinnen*Juden, viele aufgeklärte Jüdinnen*Juden in Czernowitz haben selbstverständlich Deutsch gesprochen. Sie haben sich an der deutschsprachigen Literatur und Kultur orientiert. Entsprechend sind natürlich Sprachtraumata entstanden. Wie sie die Bewältigungsstrategie entwickeln, ist sehr unterschiedlich. Es ist auch spannend, das jetzt aus der zeitlichen Perspektive zu sehen. Ich sehe einiges, was sie mit den Autor*innen von heute, die sich so schmerzhaft mit der Sprachproblematik auseinandersetzen müssen, verbindet. Das wäre auf jeden Fall ein interessanter Gegenstand für die Forschung – wenn man über der Situation stehen würde, wenn man nicht selber in der Situation drin ist.
Wie kam es zu dem Namen Ihres deutsch-jüdischen Kulturvereins „Gedankendach“?
Der Name, das Wort „Gedankendach“ ist tatsächlich von Rose Ausländer. Wir haben, als wir den Verein gegründet haben, nach einem interessanten Namen gesucht. Es gab so ein paar konventionelle, die wir auf keinen Fall haben wollten. Dann hat unsere damalige DAAD-Lektorin dieses Wort gefunden, im Gedicht „Architekten“. Wir waren einfach begeistert, hellauf begeistert, weil das genau den Punkt traf, die Idee, wie wir unsere Arbeit gestalten wollten. Es traf auch den Moment, dass der Ausgangspunkt unserer Tätigkeit natürlich das Wort war, die Idee, der Gedanke. Deswegen haben wir uns dieses Wort, diesen Neologismus so angeeignet.
Das Interview führte Mirjam Bitter; Jüdisches Museum Berlin, Nov 2022.
Einen Mitschnitt der Veranstaltung mit Oxana Matiychuk, Peter Rychlo und Mykola Kuschnir am 24. November 2022 finden Sie auf der Veranstaltungsseite.