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„Abhauen wollte ich nie“

Ein Gespräch mit Rabbiner David Goldberg über die Auswirkungen der deutschen Beschneidungs­debatte 2012

Im Sommer 2012 wurde in Deutschland heftig darüber gestritten, ob die Beschneidung von Jungen eine Körperverletzung sei. Dieser so genannten Beschneidungsdebatte ging das Urteil des Kölner Landgerichts voraus, in dem die rituelle Knabenbeschneidung zur „einfachen Körperverletzung“ erklärt wurde. Auf dem Höhepunkt der Debatte wurde Rabbiner David Goldberg aus Hof von einem deutschen Arzt angezeigt: Mit seinen Beschneidungen habe er sich der „gefährlichen Körperverletzung“ schuldig gemacht, so der Vorwurf. Ich habe mich mit ihm über die Anzeige unterhalten, seine Gefühle während dieser Zeit und die Reaktionen, die er damals erlebte.

Lieber Rabbiner Goldberg, wie kam es zu der Anzeige?

Das ist schnell erklärt: Ich bin wahrscheinlich als Beschneider in Deutschland bekannt und durch meine Website auch leicht zu finden. Beschneidungsgegner suchten ein Opfer – und fanden es in mir. Denn die Menschen, die mich angezeigt haben …

... es waren gleich mehrere?

Ja, es waren mehrere Anzeigen. Aber die Menschen, von denen diese kamen, kannten mich gar nicht. Sie suchten einfach einen Sündenbock.

Wie ging es Ihnen in dieser Zeit?

Angst hatte ich nicht, aber es war mir unangenehm. Vor allem wegen des Stresses: Ich bekam Journalistenanfragen aus aller Welt, aus den USA und Israel – mein Telefon stand nicht mehr still. Gleichzeitig habe ich ganz normal mit den Beschneidungen weitergemacht und musste den Menschen, die deswegen zu mir kamen, ihre Sorgen nehmen: Denn viele waren durch die Anzeigen verunsichert, ein Paar wollte deswegen sogar Abstand von der Beschneidung nehmen. Diese Verunsicherung spüre ich übrigens bis heute.

Es erschienen damals unzählige Artikel und Berichte über Sie. Welche Reaktionen erlebten Sie daraufhin?

Von jüdischer Seite erhielt ich natürlich viel Unterstützung, interessanterweise aber auch von christlicher Seite. Ich habe viele schöne Emails bekommen, etwa von Pfarrern, die mir Mut zusprachen. Ein Schreiber bot mir sogar finanzielle Hilfe für einen möglichen Prozess an, aber das war glücklicherweise nicht nötig, da sich der Zentralrat der Juden um die rechtliche Seite kümmerte und die Staatsanwaltschaft schließlich keine Anklage erhob.

Älterer Herr im Anzug mit Brille und Vollbart

Rabbiner David Goldberg; Foto: privat

Ich kann mir aber vorstellen, dass Sie neben den Mut machenden Emails auch ganz andere Schreiben bekamen ...

Natürlich! Gerade von deutschen Atheisten, wie ich sie mal nenne, erhielt ich teilweise sehr schlimme Emails. Einer schrieb sinngemäß, dass, wenn es mir hier in Deutschland nicht passe, ich doch abhauen sollte.

„Abhauen aus Deutschland“: Auf derartige Reaktionen nimmt auch der Titel unserer Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ Bezug. Gab es während der gesamten Debatte denn tatsächlich einen Punkt, an dem Sie überlegten, das Land zu verlassen?

Nein, daran habe ich nie gedacht.

Sie sind gebürtiger Israeli, seit wann leben Sie in Deutschland und warum?

Nach dem Fall der Mauer gab es eine Zuwanderungswelle von Juden aus den ehemaligen Ostblockstaaten nach Deutschland. Dafür fehlten aber hierzulande die Strukturen: Gerade die kleineren Gemeinden hatten überhaupt kein religiöses Personal wie einen Rabbiner, einen Kantor, einen Schächter oder einen Mohel, also Beschneider. Zu jener Zeit gab es daher entsprechende Aufrufe in Israel, mit denen nach Menschen gesucht wurde, die genau dies leisten konnten – und dazu zählte ich. Allerdings wollte ich eigentlich gar nicht nach Deutschland! Aber man überredete mich, es zumindest für ein halbes Jahr zu probieren. Nach den sechs Monaten erkannte ich, wie wichtig meine Aufgabe hier ist und blieb, zunächst für ein weiteres Jahr, dann noch ein Jahr und nun lebe ich schon 21 Jahre hier. Zunächst war ich in Ost-Berlin, danach in Straubing und schließlich ab 1997 in Hof, wo es vorher noch gar keinen Rabbiner gab.

Spüren Sie heute noch die Konsequenzen aus den vormaligen Anzeigen gegen Sie?

Manchmal werde ich noch von älteren Menschen darauf angesprochen oder von Gästen einer Beschneidungsfeier. Aber eigentlich ist nun alles klar, denn der Beschluss des Bundestags hat rechtliche Eindeutigkeit geschaffen: Babys bis sechs Monate kann ich beschneiden, bei Älteren muss ein Arzt dabei sein.

Einmalbesteck für eine Beschneidung bestehend unter anderem aus Scheren, Beschneidungsklemme und Einmalhandschuhen

Einmalbesteck für die Beschneidung, Israel, 2014, zu sehen in der Ausstellung Haut ab!; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Oliver Stratz

Wie viele Beschneidungen haben Sie eigentlich durchgeführt?

Bislang über 4.200.

Das ist viel!

Für einen Mohel in Israel, der manchmal zwei bis drei Beschneidungen am Tag durchführt, nicht wirklich. Hierzulande aber schon, vor allem wenn man diese Zahl mit der Praxis deutscher Ärzte vergleicht. In Deutschland sind etwa zehn Prozent der Männer beschnitten, bei den meisten wurde der Eingriff aber erst später durchgeführt, zum Beispiel wegen medizinischer Probleme. Deswegen fehlt den Ärzten hierzulande die Erfahrung, gerade bei der Beschneidung von Babys.

Wie sehen Sie nun aus heutiger Sicht die Debatte von vor zwei Jahren?

In meinen Augen war diese stark von Antisemitismus geprägt. Leider gibt es hier immer noch viele Antisemiten, deswegen glaube ich auch, dass sich so eine Debatte wiederholen könnte – dann eben mit einem anderen Aufhänger.

Hat sich für Sie etwas durch die Diskussion geändert?

Ich führe immer noch Beschneidungen in ganz Deutschland durch und teilweise auch in ganz Europa. Da hat sich für mich gar nichts geändert.

Das Gespräch führte Alice Lanzke, Medien.

Älterer Mann mit Tallit beschneidet ein Baby, das auf einem Tisch liegt. Im Hintergrund steht ein weiterer Mann mit Tallit

Rabbiner David Goldberg bei einer Beschneidung; Foto: privat

Zitierempfehlung:

Alice Lanzke (2015), „Abhauen wollte ich nie“. Ein Gespräch mit Rabbiner David Goldberg über die Auswirkungen der deutschen Beschneidungs­debatte 2012.
URL: www.jmberlin.de/node/6575

Blick hinter die Kulissen: Beiträge zur Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ (9)

  • Beiträge zur Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“

    Die Blogbeiträge unserer Mitarbeiter*innen, die im Rahmen der Ausstellung Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung entstanden sind, können Sie nun hier auf unserer Website lesen.

  • Älterer Herr im Anzug mit Brille und Vollbart.

    „Abhauen wollte ich nie“

    Alice Lanzke im Gespräch mit Rabbiner David Goldberg über seine Reaktionen auf eine Anzeige gegen ihn als Beschneider wegen „gefährlicher Körperverletzung“

    Interview
    2015

  • Schwarz-weiß-Foto: vier Männer mit Kippa stehen um eine Baby herum.

    „Die Fragen kamen erst im Nachhinein“

    Mirjam Wenzel im Gespräch mit Naomi, die zum Judentum übergetreten ist und deren Sohn nach traditionellem Ritus beschnitten wurde

    Interview
    2015

  • Schwarz-weiß-Foto: zwei Personen sitzen an einem Backgammon Spiel.

    Davids Beschneidung

    Alice Lanzke erzählt, was heute noch über die Geschichte von Davids Beschneidung im Alter von 22 Jahren herauszufinden war

    Bericht
    2015

  • Ausstellungsansicht, Wand mit der Beschriftung: Haut ab.

    Im Hamsterrad der Argumentation

    Andy Simanowitz berichtet über hartnäckige Fragen und Argumentationsspiralen als Guide in der Ausstellung

    Bericht
    2015

  • Farbfotografie der Synagoge Fraenkelufer Berlin, Außenansicht.

    „Teil von etwas Ganzem“

    Über die Selbstverständlichkeit der Beschneidung sprach Alice Lanzke mit Amitay und Meital aus Israel

    Interview
    2015

  • Schwarz-weiß-Foto: Kinder aufgereiht und gekleidet in Uniformen.

    Eine Beschneidung für den Familienfrieden

    Ein Interview von Alice Lanzke mit einer muslimischen Mutter über die Frage: Soll der vierjährige Sohn beschnitten werden?

    Interview
    2015

  • Atelier-Fotografie von einem Paar mit einem ca. vierjährigen Kind.

    „Es wäre aber in diesem Falle die beste Lösung, wenn ein Mädel käme.“

    Jörg Waßmer findet im Nachlass von Fritz Wachsner Interessantes zur innerjüdischen Beschneidungsdebatte

    Essay
    2015

  • Schwarz-weiß Zeichnung eines Mannes, der die Hand zum Gruß hebt, die Finger sind zwischen Mittel- und Ringfinger gespreizt.

    Über Zugehörigkeiten und familiäre Kontroversen

    Mirjam Wenzel im Gespräch mit Signe und Darrell über die Beschneidung und darüber, welche Rolle für sie die jüdische Tradition bei der Erziehung ihrer Kinder spielt

    Interview
    2014

  • Nahaufnahme einer grauen Wand mit beschrifteten rosa Notizzetteln.

    Nach der Ausstellung ist vor der Ausstellung

    Martina Lüdicke über die Entscheidung, den Fragen zum Thema Beschneidung in der Ausstellung Die ganze Wahrheit eine eigene Ausstellung zu widmen

    Blick hinter die Kulissen
    2014

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