Im Hamsterrad der Argumentation

Wie spät es ist, weiß ich nicht, aber es ist bereits hell. Mein Wecker wird bald klingeln, meine Augen sind auf, der Himmel trägt sein tägliches Grau. Hinter meinen Augen drehen sich Argumente – rechtliche, religiöse, soziale, medizinische. Meine Zunge zuckt kaum, aber meine Gedanken sprechen zweistimmig. Ich bin wieder im Hamsterrad der Argumentation, in das ich während meiner Führung durch die Sonderausstellung »Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung« am Vortag gezerrt wurde. So oft ich mich mit der hartnäckigen Besucherin darauf verständigt hatte, dass zwischen der rituellen Knabenbeschneidung und der weiblichen Genitalverstümmelung schwerwiegende Unterschiede bestehen, so oft führte sie letztere dennoch immer wieder in ihren Argumentationsspiralen an.

Viele Meschen stehen vor einer erhöhten Plattform auf der verschiedene nackte männliche Statuen stehen

Ausstellungsbesucher im Raum »Auf Messers Schneide« © JMB, Foto: Jule Roehr

Trotz der Erklärung von Cilly Kugelmann (nachzulesen in der Einleitung zum Begleitband, zum Download erhältlich auf unserer Website), dass wir mit der »Haut-Ab!«-Ausstellung die Debatte von 2012 über die rituelle Knabenbeschneidung nicht fortführen wollen; trotz einer Ausstellung, die vor allem die kulturhistorischen Hintergründe des Rituals thematisiert; trotz meiner behutsamen Präsentation in den Führungen, mit der ich zum Schauen und Verstehen und nicht zum Urteilen und Streiten anregen möchte; trotz der vielen Besucher, die mit großer Offenheit und Interesse meine Anregungen annehmen:

Gespräche wie dieses, dessen intrusive Drehkraft mich an diesem Morgen aus der Nacht in den Tag spült, sind in längerer oder kürzerer Form Bestandteil fast jeder Führung durch diese Sonderausstellung.

Begegnungsmodus: Richter

Anstatt einer traditionellen Museumsführung bieten wir unseren Besuchern hier wandernde Gesprächskreise an, die zur Begegnung einladen sollen. Viele kommen allerdings nicht wie sonst in unser Haus – interessiert, vorsichtig, andächtig, beschämt, aufgeregt, prüfend, gelangweilt, erschöpft, nachdenklich und in unzähligen Vermischungen dieser unvollständigen Liste. Gerade bei Erwachsenen dominiert eine andere Haltung gegenüber dem Thema der Ausstellung: der Modus des Urteilens. Aus Museumsbesuchern werden Richter. Die Objekte, Bilder und Texte werden nicht als Lernquellen oder Erfahrungsorte, nicht als Evidenzen der Geschichte oder »langweiliges altes Zeug«, sondern als Reizmittel wahrgenommen, die zur Äußerung von Für- und Widerargumenten provozieren. Alles Gezeigte scheint vorab bereits einer Falsch-Richtig-Binarität zu unterliegen, die sich dann vor Ort und am einzelnen Gegenstand konkretisiert. Und zwar überwiegend in ein- und demselben Sinn.

Das Urteil

»Ein hoher Preis«, urteilt zum Beispiel ein Gymnasiallehrer, die Stimme voll donnerndem Pathos. Wir befinden uns im »Wortraum«, dem zweiten Kapitel der Ausstellung. Grell bestrahlt von der Kraft neuester Erleuchtungsstechnik mit weißen Buchstaben auf einer weißen Wand, empfängt hier das wegweisende Zitat aus dem ersten Buch Mose die geblendeten Besucher. Hier stehen wir uns gegenüber. Die Plastizität unserer Körper zur Schau gestellt in der Präzision des Neons.

Ein Mann steht in einem weißem Raum vor einer Wand mit weißer Schrift

Ein Besucher im »Wortraum« der Ausstellung © JMB, Foto: Jule Roehr

Als seien wir selbst vom Messerklingenlaufsteg hinunter gestiegen, vor dem wir eben noch standen, im ersten Kapitel der Ausstellung, vor den Plastiken aus fünf Jahrtausenden Menschheitsgeschichte, den Körperidealen und der kulturellen Vielfalt, in Stein gemeißelt, aus Holz geschnitzt, in Gips und Harz gegossen.
Er ist Mitte fünfzig, deutsch und christlich-säkular. Einen hohen Preis, meint er, müssten »die Juden« für »ihren Bund« mit Gott zahlen. Und weil »ein hoher Preis«, gesprochen mit solch donnerndem Ton einen zu hohen Preis meint, haben wir hier die erste Beschneidungskritik dieser Führung – lang hat es, wie üblich, nicht gedauert. Der Vorwurf lautet: Eltern, die ihre Kinder beschneiden lassen, unterstellen diesem Akt einen Wert, den er nicht hat. So führt diese Kritik in eine der großen Herausforderungen des Themas und der Ausstellung: Zu verstehen, dass es Menschen gibt, für die die Beschneidung einen so großen Wert hat, dass sie die Schmerzen und Risiken des Eingriffs in Kauf nehmen. Dass sie eben genau kein zu hoher Preis sind für das, was die Beschneidung bewirkt und bedeutet.

Die vierte Haltung

Wir befinden uns nun im zweiten Teil des »Round-Table-Trialogs«, dem vierten Raum der Ausstellung. Hier wird die Beschneidung im Islam vorgestellt und hier beginne ich die Abschlussdiskussion mit der Klasse dieses Lehrers an einer Schule, auf der es nach Aussage der Schüler keine Muslime, aber einen Juden gibt. Ein Gymnasiast ergreift das Wort: »Ehrlich gesagt hat sich meine Meinung zu dem Thema nicht geändert, ich halte das weiterhin für totalen Schwachsinn.« Mit diesem Satz sind wir jenseits von Argumenten. Was sich hier zeigt, ist nicht eine der drei Haltungen zur rituellen Beschneidung – die jüdische, muslimische oder christliche –, deren Kulturgeschichte die Ausstellung skizziert. Es ist eine vierte Haltung, der die Ausstellung kein eigenes Kapitel widmet.
Soll man das Fehlen bemängeln? Manche Besucher unterstellen dem Museum ja tatsächlich strategische Auslassungen: »Geht die Ausstellung auch auf die Schmerzen der Kinder ein?«, wird nach meiner einführenden Darstellung der Ausstellungskapitel anklagend gefragt. »Ich finde es schade, dass die Ausstellung der medizinischen Perspektive keinen hinreichenden Raum gibt«, am Ende der Führung bemängelt. In ihrer Summe bezeugen die Auslassungsvorwürfe allerdings selbst weitere Auslassungen: Bisher fragte niemand, ob wir denn nicht auch auf die Entblößungen eingehen, zu dem mutmaßlich jüdische Männer von Nazis gezwungen wurden; bisher fragte auch niemand, wo die Wand ist, auf der wir die antisemitischen und islamfeindlichen Tiraden ausstellen, die 2012 unter vielen Artikeln zur Beschneidungsdebatte die Kommentarketten verunstalteten; und bisher fragte niemand, ob wir nicht auch auf die Genese und Eigenart dieser vierten Haltung eingehen hätten können, aus der solcherart Tiraden hervorsprießen: Auf eine unsensible, grob verallgemeinernde, schlecht informierte Religionsfeindlichkeit.

Live und in Farbe

Aber die Kuratorinnen haben hier mit Weitsicht entschieden. Für diese Haltung brauchte man keine Ausstellungsfläche. Wie wir sehen, wird sie von so manchen Besuchern selbst in die Ausstellung getragen und hier mit Herzenslust aufgeführt.

Junge Menschen stehen vor einer hell erleuchteten Wand auf der drei gleichaussehende nackte Männer zu sehen sind, vor deren Penissen Länderkarten von Deutschland, Israel und der Türkei zu sehen sind

Besucher vor der Intallation »Personalausweis« von Harley Swedler © JMB, Foto: Jule Roehr

Daher empfehle ich Freunden und Bekannten und allen Lesern hier, nicht einfach nur die Ausstellung zu besuchen, sondern am Sonntag um 14 Uhr bei der öffentlichen Führung an den wandernden Gesprächskreisen teilzunehmen. Mit etwas Glück oder Pech werden Sie dann dieses erweiterte Haltungsspektrum erleben. Neben einer kulturgeschichtlichen Einführung in die jüdische, muslimische und christliche Tradition der rituellen Beschneidung live und in Farbe, zuweilen auch borniert und selbstgerecht: Religionsfeindlichkeit in Aktion.

Andy Simanowitz, Guide im Jüdischen Museum Berlin

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Kommentiert von Rerun am 12. Februar 2015, 12:25 Uhr

Dass derjenigem der in dieser Tradition verhaftet ist und diese zu verteidigen sucht, in einem Hamsterrad der Argumentation steckt, ist nicht überraschend sondern offensichtlich. Denn er ist es, der in einem Hamsterrad steckt. Ansonsten lese ich hier nur wieder die altbekannten Diffamierungen (Religionsfeindlichkeit) und Antisemitismusvorwürfe. Dass man zum „Schauen und Verstehen“ und nicht zum „Urteilen und Streiten“ anregen möchte, macht nur einmal mehr deutlich, dass man das Urteil scheut, denn wie dieses Urteil ausfällt ist klar. Das alles ist aber kein Grund zur Selbstreflektion sondern nur Anlass denjenigen, die urteilen, Unredlichkeit und niedere Motive zu unterstellen.

Den Wert, den die Beschneidung habe, dass sie sogar die Schmerzen und Risiken des Eingriffs in Kauf nähmen, ist aber der Wert der Eltern und nicht der des Kindes. Kein Kind möchte, dass ihm ein Messer an die Genitalien geführt wird. Keines. Da gibt es nichts zu deuten und daran ändert auch stete Hinweis auf antisemitische „Tiraden“ nichts. Wer auf Kritik mangels Argumenten nur damit reagieren kann, sich diese Kritik zu verbitten, dem kann ich leider nur gleichfalls selbstgerechte Borniertheit unterstellen.

Kommentiert von Jens Wackernagel am 12. Februar 2015, 14:07 Uhr

“ Zu verstehen, dass es Menschen gibt, für die die Beschneidung einen so großen Wert hat, dass sie die Schmerzen und Risiken des Eingriffs in Kauf nehmen.“

..dass SIE?

Ein sehr seltsamer Satz.
Babys und Kleinkinder machen also eine Risiko/Nutzen-Abwägung und nehmen dann Schmerzen und Risiken bewusst in Kauf? Wie soll das gehen?
Wenn Erwachsene sich nach einer sorgfältigen Abwägung entschließen sich etwas nicht Nachwachsendes ohne medizinische Notwendigkeit vom Körper abschneiden zu lassen ist doch etwas völlig anderes.

Kommentiert von Andy Simanowitz am 13. Februar 2015, 17:13 Uhr

Es sind selbstverständlich die Kinder, die die Schmerzen erleiden und die gesundheitlichen Risiken tragen, und es sind die Eltern, die sie in Kauf nehmen. Und zwar weil sie in der Beschneidung einen Wert, vielleicht besser, einen Sinn sehen. Daher der Aufruf zum besseren Verständnis: Besuchern wird die Möglichkeit gegeben, die Geschichte des Rituals kennenzulernen. Dadurch werden erst Bedeutung und Debatten verständlich.
Der Blogtext nun soll niemanden diffamieren, sondern von einer Erfahrung in der Ausstellung berichten. Und zwar von den Schwierigkeiten einiger Besucher, sich diesem Thema auf die von den Ausstellungsmachern und der Museumsleitung erhofften Weise zu nähern. Eine Schwierigkeit, die meinem Eindruck nach unter anderem in einer allgemeinen Religionsfeindlichkeit begründet ist. Und borniert ist die Religionsfeindlichkeit genau in diesem Sinne: sie beschränkt das Verständnis, da sie ganze Lebenswelten von vornherein für „schwachsinnig“ erklärt.

Bezüglich der Entscheidung des Museums, sich dem Thema auf die gewählte Weise zu widmen, verweise ich auch gerne auf das Grußwort von Cilly Kugelmann im Ausstellungskatalog.

Kommentiert von Rerun am 14. Februar 2015, 14:59 Uhr

„Der Blogtext nun soll niemanden diffamieren“

Das tut er aber: er diffamiert die zahlenden Besucher der Ausstellung, die sich ihre eigene Meinung eben nicht durch eine solche Ausstellung nehmen lassen und die nicht „andächtig“ und „beschämt“ „ach so ist das also, dann ist ja alles in Ordnung“ rufen und auch nicht der ausgewiesenen Richtig-Singularität der Ausstellung folgen mögen oder können und die auch trotz allem nicht darüber hinwegsehen, dass zwischen der weiblichen Beschneidung und der Beschneidung von Jungen eben nicht nur schwerwiegende Unterschiede bestehen sondern eben auch und vor allem schwerwiegende Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede zwischen den schweren und den leichten Formen der weiblichen Beschneidung sind jedenfalls gravierender als die Unterschiede zwischen den leichteren Formen der FGM und der Beschneidung von Jungen. Aber so genau schaut man da halt nur ungerne hin und macht aus der Unvergleichbarkeit ein Dogma, denn ohne dieses würde ja offenbar, worum es geht: Um eine Körperverletzung an Kindern, eine Menschenrechtsverletzung und einen tiefen Eingriff in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht.

Kommentiert von Mirjam Wenzel am 14. Februar 2015, 21:15 Uhr

Lieber Rerun,

vielen Dank, dass Sie die Kommentarfunktion dieses Blogs nutzen, um Ihre Kritik an dem Text von Andy Simanowitz und unserer Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ vorzubringen. Als verantwortliche Redakteurin dieses Blogs möchte ich Ihnen versichern, dass wir an den Meinungen unserer Leserinnen und Leser ebenso interessiert sind, wie an denen unserer Ausstellungsbesucherinnen und –besucher –
selbst wenn wir diese nicht teilen.
Die Ausstellung „Haut ab“ eröffnet eine kulturhistorische Perspektive auf die Tradition der rituellen Beschneidung in den drei monotheistischen Religionen. Im Unterschied zu der von Ihnen erwähnten Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung geht diese Tradition auf ein biblisches Gebot zurück. Im 1. Buch Mose 17:7 spricht Gott zu Abraham: „Du aber halte meinen Bund, du und deine Nachkommen, Generation um Generation. Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist, unter euch, muss beschnitten werden.“ Dieses Gebot ist für alle Strömungen des Judentums bindend (auch wenn es durchaus innerjüdische Kritik an ihm gibt). Die Praxis der Female Genital Mutilation hingegen ist zwar ein tradierter Brauch in einigen afrikanischen und asiatischen Ländern, im Unterschied zur rituellen Beschneidung von Jungen aber nicht auf einen heiligen Text und dessen kanonische Auslegung im Islam zurückzuführen. Aus eben diesem Grund findet sie in der Ausstellung keinerlei Erwähnung.

Mit freundlichen Grüßen
Mirjam Wenzel

Kommentiert von Jens Wackernagel am 15. Februar 2015, 11:22 Uhr

„Es sind selbstverständlich die Kinder, die die Schmerzen erleiden..“
Das ist eigentlich keineswegs selbstverständlich, dass Kindern aus religiösen Gründen Schmerzen zugefügt werden.
Wenn Erwachsene sich aus religiösen Gründen selbst Schmerzen zufügen (z.B. als vermeintliche Buße) – dagegen lässt sich als Anders- oder Ungläubiger kaum etwas einwenden.
Und wenn religiöse Eltern aus religiöser Motivation heraus ihre Kinder züchtigen, dann ist das in den meisten Ländern der Welt erlaubt.
Das war lange Zeit auch hier „selbstverständlich“.
Aber hier in Deutschland reicht heute ein einziger Klaps für eine Bestrafung der Eltern – auch wenn diese sich auf die Bibel berufen – zählt nicht!
„Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald“
„Rute und Strafe gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande.“ usw…

Mal ist die Berufung auf „Religion“ ein Argument, mal nicht?

„Und zwar weil sie in der Beschneidung einen Wert, vielleicht besser, einen Sinn sehen. Daher der Aufruf zum besseren Verständnis:“

„Verständnis“ für religiös motivierte Körperverletzung? So wie bei jener Frankfurter Richterin, die aus dem Koran zitierte als ein muslimischer Ehemann seine Frau schlug?
Es gibt eine Unterstellungen die regelmäßig vorgetragen wird: diejenigen (immerhin die Mehrheit der Bevölkerung) die für ein kindliches Recht auf körperliche Unversehrtheit sind wären insgesamt „religionsfeindlich“. Das stimmt nicht. Man sehr wohl religionsneutral oder auch religiös sein und dennoch für den Schutz von Kindern vor Schmerzen und Verlust gesunder Körpersubstanz. Es gibt ja auch zahlreiche religiös motivierte Handlungen mit Kindern die zu keinen Schmerzen und zu keinem Verlust an Körpersubstanz und Sensibilität führen.

Kommentiert von Rerun am 15. Februar 2015, 20:16 Uhr

Hallo Frau Wenzel,

meine Kritik richtet sich nicht dagegen, dass FGM nicht Bestandteil der Ausstellung ist. Das ist ja durchaus legitim. Meine Kritik richtet sich an Herrn Simanowitz, der hier eine Publikumsbeschimpfung vollzieht und die Besucher, die offenbar nicht seiner Meinung sind, gar zur wesentlichen Attraktion der Ausstellung erklärt.

Sowohl die Praxis der Jungen- wie der Mädchenbeschneidung werden im Islam übrigens höchst unterschiedlich bewertet. Der Koran fordert weder das eine noch das andere, beide werden jedoch in den unterschiedlichen Strömungen als „sunna“, als empfohlen, angesehen. Schafiiten und andere sehen auch die weibliche Beschneidung als Pflicht an. Das Abgrenzungskriterium „steht in einem heiligen Buch“ trifft es daher nicht, zumal das ja sowieso schon nur für denjenigen relevant sein kann, für den sich Bücher in heilig und nicht heilig unterteilen. Der Rechtsstaat sollte hier explizit nicht zu gehören.

Es gilt halt wie immer: Menschenrechtsverletzung ist, was die anderen tun. So sehen es die BeschneiderInnen von Mädchen in Ägypten oder Indonesien halt auch.

Kommentiert von Philip Silvanus am 17. Februar 2015, 14:05 Uhr

Hallo Rerun,

so wie ich den Artikel verstanden habe, geht es der Ausstellung darum einen gemeinsamen Dialog anzuregen. Im Gegensatz zu einem langweiligen „ich habe Recht“ – „nein, ich habe Recht“

Insofern scheint mir die Beschwerde (bzw Entäuschung) einigermaßen angemessen.
Ich vermute allerdings, dass Sie gar nicht das Ziel der Beschwerde sind. Sie wirken so, als wären Sie zu einem Gespräch bereit.
Ich vermute weiterhin, dass die besagten (und nicht die anderen) Besucher des Museums dort hingegangen sind, um mal zu meckern. Anstatt sich einen anderen Blickwinkel auf das Thema anzueignen (auch wenn sie ihre Meinung dadurch nicht ändern sollten).

Zum Thema Beschneidung:
In Diskussionen ist mir häufig aufgefallen, dass die meisten Kritiker weder selber beschnitten sind, noch mit den mittlerweile erwachsenen Kindern, die beschnitten wurden, gesprochen haben.

Während die Genitalbeschneidung bei Frauen auch nach dem Kindesalter höchst problematisch ist, sehe ich das bei der männlichen Beschneidung nicht so.

Viel allgemeiner Frage ich mich allerdings: Woher kommt die Kritik? Etwa um Kinder zu schützen? Im Ernst: Dafür können Sie Ihre Zeit besser investieren.

Meinen Sie die Kritiker der Beschneidung setzen sich ähnlich vehement dafür ein, dass der Haushalt für Familie und Bildung erhöht wird? Ich kann Ihnen versichern, dass alleine durch die Kürzung vom Bildungsetat mehr Kindern langfristig geschadet wird, als durch die Beschneidung.

Lenke ich vom Thema ab? Ich hoffe! Es gibt tausend und ein wichtigeres Problem, um dessen Lösung Sie sich kümmern könnten.
Die Beschneidung ist eine religiöse und kulturelle Tradition. Wenn das jemand abschaffen soll (und kann!), dann nur die Gruppe, die das lebt.
Warum das große Interesse von nicht-Beschnittenen, die ihre Kinder sowieso nie beschnitten hätten?

Kommentiert von Rerun am 17. Februar 2015, 17:30 Uhr

Tja, warum kämpft man gegen Ungerechtigkeit, wieso setzen sich Menschen für Gleichheit vor dem Recht ein? Ich kann Ihnen versichern, dass meine Empörung über ein Gesetz, dass es erlauben würde, Mädchen die Klitorisvorhaut abzuschneiden oder Mädchen eine Tätowierung zu verabreichen nicht minder wäre und mich das Argument, dass eine Tätowierung bei Mädchen so schlimm ja nun auch wieder nicht sei, schlicht und ergreifend nicht überzeugen würde. Bei jedem Thema kann man mit „es gibt wichtigeres“ vorbeisehen. Es ist die Diskrepanz zwischen den Werten, die für die Empörung sorgt. Wir setzen uns für Geschlechtergleichberechtigung ein, wir setzen uns für Kinderrechte ein, für das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wir setzen uns dafür ein, dass Kinder ohne Züchtigung aufwachsen dürfen. Und nur in diesem einen speziellen Fall, wenn es um Jungen und deren Vorhäute geht, soll das auf einmal alles nicht mehr gelten und ein grundgesetzwidriges Gesetz wird in Rekordtempo durch den Bundestag gepeitscht. Und da soll man die Füße still halten, weil es ja wichtigeres gibt? Tut mir leid, da bin ich nicht der Typ für. Für mich sind Menschenrechte unteilbar und nicht derart relativierbar.

Kommentiert von Peter am 17. Februar 2015, 21:28 Uhr

Hallo Phillip, sie schrieben
‚Anstatt sich einen anderen Blickwinkel auf das Thema anzueignen (auch wenn sie ihre Meinung dadurch nicht ändern sollten).‘

Ist das dann nicht eine Schwäche der Ausstellung, das grade die Argumente gegen die Beschneidung nicht gezeigt werden?
Und sei es nur um damit das Verständniss für die Beschneidungskritiker zu fördern?
So wirkt das ganze doch eher wie eine Werbeveranstaltung.

Kommentiert von Gudrun Fink am 17. Februar 2015, 23:23 Uhr

Sehr geehrte Frau Wenzel,

auch ich habe die Ausstellung besucht und ich hätte zwei Fragen:

1. Sie schreiben „Die Ausstellung “Haut ab” eröffnet eine kulturhistorische Perspektive auf die Tradition der rituellen Beschneidung in den drei monotheistischen Religionen.“ – dem Vorwort des Ausstellungskatalogs entnehme ich dies ebenso. Hat es einen Grund, dass diejenigen christlichen Strömungen, die noch heute und offensichtlich auch mit Bezugnahme auf einen heiligen Text die Jungenbeschneidung praktizieren, nicht erwähnt werden? Die Ausstellung informiert leider nicht über die Tradition der rituellen Beschneidung im Christentum. Sie zeigt lediglich die Rezeption der Beschneidung Jesu in den Schönen Künsten, der Literatur und in der Theologie. Warum fehlt die christliche Beschneidungspraxis in dieser Ausstellung? Oder habe ich es übersehen?

2. Weiter schreiben Sie: „Im Unterschied zu der von Ihnen erwähnten Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung geht diese Tradition auf ein biblisches Gebot zurück.“ – Ok, das wäre ein Argument, dass ich gelten lasse. Das heißt, Unterscheidungsmerkmal zwischen FGM und MGM ist, dass FGM nicht mit einem schriftlich fixierten Text eingefordert wird oder aus keiner monotheistischen Religion kommt? Aber auch hier verstehe ich nicht, warum dann in der Ausstellung (im ersten Raum) auf die Vielfältigkeit von Körpermanipulationen in unterschiedlichen Kulturen und deren teilweiser Fortbestand bis heute hingewiesen wird. Die meisten dieser Bräuche entstammen keinem biblischen Gebot. Das fängt schon mit dem allerersten Exponat an. Die Ganzkörperplastik eines australischen Aborigine. Mit dem Verweis auf ein „mehrstufiges Initiationsritual“. Daher die Frage: wie grenzt sich die Ausstellung ab gegen alles was nicht biblisch geboten wurde, ohne eine Wertung zwischen unterschiedlichen Kulturen vorzunehmen? (Übrigens: Dass die Vorstellung einer zugenähten Vagina mehr Schrecken hervorruft als die eines Penis ohne Vorhaut, ist verständlich. Dass die Ausstellung nicht erläutert, worin das „mehrstufige Initiationsritual“ genau besteht, dahinter muss ich leider eine Absicht vermuten.)

Ich bin gespannt auf Ihre Antworten!

Gudrun Fink

Kommentiert von Steffen H. am 18. Februar 2015, 08:28 Uhr

@Philip Silvanus:

auf die Schnelle ein paar Anmerkungen zu Ihren Aussagen:

*****so wie ich den Artikel verstanden habe, geht es der Ausstellung darum einen gemeinsamen Dialog anzuregen. Im Gegensatz zu einem langweiligen “ich habe Recht” – “nein, ich habe Recht”*****

Ich zitiere hierzu aus dem Artikel:

*****Trotz der Erklärung von Cilly Kugelmann, dass wir mit der »Haut-Ab!«-Ausstellung die Debatte von 2012 über die rituelle Knabenbeschneidung nicht fortführen wollen.*****

Das fasse ich nicht gerade als Aufforderung zum Dialog auf…

Desweiteren:

*****Zum Thema Beschneidung:
In Diskussionen ist mir häufig aufgefallen, dass die meisten Kritiker weder selber beschnitten sind, noch mit den mittlerweile erwachsenen Kindern, die beschnitten wurden, gesprochen haben.*****

Darf ich dann, obwohl ich keine Frau bin, weiterhin die Genitalverstümmelung von Frauen kritisieren?

Womit wir zu folgendem Punkt kommen:

*****Während die Genitalbeschneidung bei Frauen auch nach dem Kindesalter höchst problematisch ist, sehe ich das bei der männlichen Beschneidung nicht so.*****

Während die Genitalbeschneidung bei Frauen auch nach dem Kindesalter höchst problematisch ist, sehe ich das bei der männlichen Beschneidung ebenfalls so, denn ich bin ungewollt vorhautlos und muss mit dem Trauma und den körperlichen und sexuellen Konsequenzen leben.

*****Viel allgemeiner Frage ich mich allerdings: Woher kommt die Kritik? Etwa um Kinder zu schützen? Im Ernst: Dafür können Sie Ihre Zeit besser investieren.*****=

Ja, ich kritisiere, um Kinder zu schützen, aus keinem anderen Grund. Dafür lohnt es sich schon, Zeit zu investieren, finden Sie nicht?

Kommentiert von Hannes am 18. Februar 2015, 11:08 Uhr

Es ist ein gern und häufig vorgebrachtes Argument, die Kritiker der Genitalbeschneidung von Kindern seien selbst nicht beschnitten und ihre Motive lägen im Halbdunkel, was einen unausgesprochen Verweis auf latenten und nur schlecht versteckten Antisemitismus birgt.
Diese „Argumente“ treffen und schmerzen so sehr, wie sie falsch sind.
Ich war – soweit ich weiß – noch nie eine indische Frau, doch ich halte es für meine Pflicht, auf die katastrophale Situation indischer Frauen hinzuweisen. Ich bin nicht homosexuell, doch ich finde es überaus wichtig, mich für die Rechte dieser Menschen einzusetzen. Was treibt mich an? Ganz einfach fach: Mitgefühl und Engagement.
Doch in der „Beschneidungsdebatte“ bin ich selbst betroffen, direkt und unmittelbar.
Ich kenne das Gefühl der permanent nackten Eichel, die Trockenheit und das Spannungsgefühl. Ich kenne die Empfindungsarmut, die Probleme bei der Masturbation und beim Geschlechtsverkehr, ich kenne die Auswirkungen auf die Psyche und auf die Beziehung zu meinen Partnerinnen.
Ich kenne aus eigenem Erleben auch die Schutzmechanismen, die es den Betroffenen so schwer machen, die erlittenen Verletzungen zu sehen, zu verstehen und anzusprechen.
Und ich kenne, aufgrund meiner Erfahrungen mit der Rekonstruktion meiner Vorhaut,den Unterschied zwischen „beschnitten“ und „teilweise wiederhergestellt“.
All dies motiviert mich, aufzustehen und mich einer Diskussion zu stellen, in der ich viel zu oft beleidigt und diffamiert wurde, und die ich doch nicht mehr aufgeben werde.
Was mir in dieser Ausstellung fehlt, ist die „andere“ Seite, die schmerzhafte, negative, problematische. Der Blick auf die Männer, die leiden. Sie zu verleugnen, ist einfach, aber unwürdig. Sie zu sehen wäre einfach, doch unerwünscht.
Wagen Sie einen Blick auf die GANZE Realität. Sie wäre es wert.

Und hören Sie bitte auf, Kritiker reflexhaft Antisemitismus vorzuwerfen. Es schadet Ihnen mehr, als es Ihnen jemals nutzen könnte.

Kommentiert von Steffen H. am 18. Februar 2015, 17:36 Uhr

Eine Ergänzung zu meinem Beitrag vom 18.02.2015, 08:28:

Ich bitte Philip Silvanus darum, genauer darauf einzugehen, was denn genau mit „Während die Genitalbeschneidung bei Frauen auch nach dem Kindesalter höchst problematisch ist, sehe ich das bei der männlichen Beschneidung nicht so.“ gemeint ist. Geht es um den eigentlichen Eingriff und die jeweiligen körperlichen/sexuellen Folgen oder nur um die Umstände des Eingriffs (Zwang oder Nichtzwang? Sozialer Druck oder Nichtdruck?). Erst mit dieser Info ergibt mein Zusatz „sehe ich das…ebenfalls so“ in diesem Kontext Sinn (oder auch nicht).

Wenn erwachsene Menschen ihre Genitalien modifizieren lassen möchten, aus welchem Grund auch immer, dann ist das deren gutes Recht. Problematisch wird es auch im Erwachsenenalter eben dann, wenn dies unter Zwang oder aufgrund von sozialem Druck geschieht. Und dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Frauen oder Männer handelt, zuallererst geht es um Menschen.

Ihre Aussage impliziert übrigens, dass die männliche Beschneidung im Kindesalter durchaus problematisch zu betrachten ist. Vielleicht sind wir am Ende ja gar nicht so weit voneinander entfernt. :-)

Kommentiert von Hans Waldorf am 18. Februar 2015, 21:49 Uhr

Mit 26 ließ ich mir meine Vorhaut entfernen, in dem Glauben, es sei die einzige Möglichkeit, meine relative Phimose „zu heilen“. Der Unterschied war ein Schock. Die Fülle und Vielfalt an Empfindungen und das was ich bis dahin als sexuelle Befriedigung kannte, war auf einen Schlag weg. Sexualität ist für mich seither die zwanghafte Suche nach etwas, was ich so nie wieder finden werde.

Dieser Eingriff liegt inzwischen 15 Jahre zurück und seither ist noch kein Tag vergangen, an dem ich es nicht zutiefst bereut habe.

Inzwischen kenne ich viele Männer, die wie ich unter den Folgen dieses Eingriffes leiden. Ich weiß nicht wie es diesen anderen Männern geht, aber für mich ist diese Ausstellung, die diesen Eingriff verniedlicht und verharmlost und all die möglichen negativen Folgen für die männliche Sexualität, und die Existenz von Männern wie mir verschweigt, demütigend.

Kommentiert von Hans Waldorf am 19. Februar 2015, 15:10 Uhr

„Keine Komplikation, sondern die notwendige Folge einer kompletten Beschneidung ist die bleibende Beeinträchtigung der Gefühlsempfindung beim Geschlechtsverkehr, die jedoch selten als wirklich störend empfunden wird“ (Zitat aus einem Aufklärungsbogen zur Beschneidung)

Und was macht man(n), wenn die Beeinträchtigung als wirklich störend empfunden wird, so wie von mir? Mich schoben die Urologen an die Psychologen ab. Von denen wollte (und konnte anscheinend) niemand auf mein Problem eingehen. Die stellten mich über Jahre mit Psychopharmaka ruhig…

Vor kurzem bin ich auf die Website eines Berliner Psychologen gestoßen, der ausdrücklich Hilfe für Menschen anbietet, die an den Folgen ihrer Beschneidung leiden.

Interessant finde ich folgenden Auszug aus seiner Website

“Die Gründe werden teilweise religiös ummäntelt, fussen aber in der Regel auf Traditionen aus vorhistorischer Zeit und haben zum Ziel, die sexuelle Erregbarkeit, die Ausbildung von erotischen Phantasien zu hemmen oder ganz zu unterdrücken. Die psychosexuelle Entwicklung wird auf diese Weise nicht nur gestört sondern teilweise ganz unterbunden, sodass eine Autonomieentwicklung der Betroffenen nur eingeschränkt oder kaum möglich ist.

Die Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung stammt also aus vorhistorischer Zeit und hatte zum Ziel, mit steinzeitlichen Methoden, die Unterwerfung der einzelnen Mitglieder einer Ethnie unter den Zwang des Kollektivs zu erleichtern.”

Leider zu weit weg, als das ich Ihn um Hilfe ersuchen könnte…

Kommentiert von Mirjam Wenzel am 19. Februar 2015, 15:46 Uhr

Sehr geehrte Frau Fink,
Vielen Dank, dass Sie sich gründlich und intensiv mit unserer Ausstellung „Haut ab!“ beschäftigen. Der Skulpturenreigen zu Beginn der Ausstellung unterstreicht, dass die Differenz zwischen beschneidenden und nicht beschneidenden Kulturen auch mit verschiedenen Körperbildern einhergeht. Das Schönheitsdeal des unbeschnittenen männlichen Körpers, welches sich im antiken Griechenland durchsetzte, grenzt sich von den bis dato gängigen Darstellungen des beschnittenen männlichen Körpers ab, die fortan in der europäischen Kultur gemeinhin als Reminiszenz des archaischen Orients oder des „primitiven Wilden“ wahrgenommen werden. Zu diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen den Vortrag „Circumcision: Identity Politics or Health Issue“ von Sander Gilman: http://www.youtube.com/watch?v=xm1G1tUmj5o oder die kommende Veranstaltung in der Akademie des Jüdischen Museums Berlin „Körper in Besitz: säkulare Körperpolitiken und die deutsche Beschneidungsdebatte“ (http://www.jmberlin.de/main/DE/02-Veranstaltungen/veranstaltungen-2015/2015_02_26_vortrag.php?b=kal).
Wie Sie richtig beobachtet haben, richtet die Ausstellung das Augenmerk in der Tat vor allem auf die visuelle Rezeption der Beschneidung im Christentum und lenkt den Blick auf die christliche Ikonografie des jüdischen Kinds, das am achten Tag nach seiner Geburt den Namen Jehoschua (lat.: Jesus) erhält. Ihre Frage, warum an dieser Stelle nicht auch diejenigen christlichen Strömungen thematisiert werden, welche die Tradition der Beschneidung fortsetzen, habe ich an das Ausstellungsteam weitergeleitet.
Mit freundlichen Grüßen
Mirjam Wenzel

Kommentiert von Jens Wackernagel am 19. Februar 2015, 16:28 Uhr

Es geht nicht, wie gerne behauptet um eine ganze kleine Zahl, eine handvoll Männer, die die Wegnahme ihrer Vorhaut im Kindesalter nicht OK finden.
Gerade erst hat eine repräsentative Umfrage in den USA ergeben, dass 10% der Männer, denen man in der Kindheit die Vorhaut abgeschnitten hat lieber genital vollständig wären. Es geht also um Millionen Männer.
Und man fragt sich warum. Warum die das nicht selbst entscheiden durften.
Denn wer damit als Erwachsener unzufrieden ist, dass er eine Vorhaut hat (die allerwenigsten sind das), der kann das ändern. Anders herum geht es nicht.
Diese Frage mit „Religion“ zu beantworten ist doch wohl zu einfach. Man weiß ja nicht einmal, ob der Betroffene später überhaupt religiös sein wird, oder ob er einen anderen Glauben annimmt.

Kommentiert von HaWeHa am 19. Februar 2015, 20:11 Uhr

Guten Abend, Frau Wenzel;
wieso verweisen Sie zwecks Erklärung der Ablation des Praeputiums auf das 1.Buch Mose? Die Total-Amputation der beweglichen Haut geht doch beim Neugeborenen gar nicht, ohne dass man die Balano-Praeputiale Lamina (eine Membran die GlanS und Inneres Praeputium verbindet) zerstört. Dieser Eingriff heisst „Periah“ und kommt erst (ERST!) im Babeelonischen Talmood vor. Weist die Ausstellung ausdrücklich drauf hin, dass die Biblische Beschneidung beim Neugeborenen etwas ganz anderes war? Bis dann die Rabbinische „P“riesterschaft um 140 nach Christus die Prozedur eigenmächtig veränderte, um die Nichtchirurgischen Praeputiums-Restorationsprojekte der Jüdischen Männer für immer zu verhindern. Die Ausstellung dokumentiert ein menschengemachtes Ritual, welches einen kaum vorstellbaren Schmerz und Leid über die unschuldigen Kinder bringt.

Kommentiert von Timotheus am 19. Februar 2015, 20:19 Uhr

Er habe sich mit einer Besucherin darauf verständigt, dass „schwerwiegende Unterschiede“ bestehen, schreibt der Verfasser dieses Artikels und wählt dann je nach Geschlecht des betroffenen Kindes das Wort „Knabenbeschneidung“ oder „Genitalverstümmelung“. Man fragt sich schon, wie es zu dieser „Verständigung“ gekommen sein mag, ob dabei Argumente ausgetauscht wurden oder vielmehr nie wirklich reflektierte Ansichten, vielleicht aus dem tief empfundenen Gefühl heraus, das es gar nicht anders sein könne, ein weiteres Mal wiederholt wurden.

Versuchen wir also für einen Moment, derartigen Ansichten Fakten gegenüberzustellen und zwar insbesondere solche, die als leicht nachvollziehbare und ausreichend dokumentierte biologische, ethnographische sowie historische Tatsachen keinem home bias unterliegen, also für die nachvollziehbare Neigung, Traditionen der eigenen Gruppe gegenüber denen anderer Gruppen mit unterschiedlichem Verständnis zu begegnen, möglichst wenig anfällig sind.

Da wäre zunächst die Tatsache, dass männliche und weibliche Genitalien sich aus den selben Anlagen entwickeln – bei Föten sind sie bis etwa zur zehnten Schwangerschaftswoche optisch nicht unterscheidbar. Jedem Teil der männlichen Genitalien enspricht also ein Teil der weiblichen Genitalien – zwar mit teilweise unterschiedlicher Funktionalität sowie unterschiedlicher Verteilung und Größenausdehnung, aber mit der gleichen Gesamtzahl an Nervenenden im jeweiligen erogenen Gewebe. Seit der Studie von Taylor Mitte der 1990er Jahre weiß man, dass beim Mann die höchste Konzentration an sexuell stimulierbaren Zellen, einschließlich der sonst nirgends im Körper nachgewiesenen Langerhans-Zellen, sich in der Vorhaut befindet. Diese ist mit dem gefurchten Band an der Spitze, das mit Lippen verglichen werden kann, dem hochgradig sensitiven Frenulum sowie dem lubrikationsfähigen Epithel auf der Innenseite der Vorhaut ein hochkomplexes und auf die Partnerin perfekt abgestimmtes Organ. Eine eindeutige Abgrenzung der Vorhaut gegenüber dem übrigen Penis ist hingegen nicht möglich; Muskeln und Blutgefäße durchziehen den gesamten Penis.

Weiterhin ist festzustellen, dass Genitalverstümmelungen von Mädchen nur dort vorkommen, wo es sie auch bei Jungen gibt. Bezüglich der Schwere der Eingriffe ist bei weiblichen Opfern ein breites Spektrum empirisch feststellbar, das von einem Einritzen der Klitorisvorhaut ohnen bleibenden körperlichen (jedoch sehr wohl mit psychischem) Schaden bis hin zur verheerenden sogenannten pharaonischen Beschneidung reicht. Bei männlichen Betroffenen werden hingegen keine Formen ohne bleibende köperliche Schäden beschrieben; die so genannte Zirkumzision führt in vielen Fällen zu Anorgasmie und bei Partnerinnen zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr durch Lubrikationsverlust; teilweise ist nach Jahrzehnten des Scheuerns der traumatisierten und keratinisierten Eichel völlige Gefühllosigkeit die Folge. Auch bei der männlichen Genitalverstümmelung sind Extremformen zu beobachten wie die Häutung des gesamten Penis. Übrigens hat es auch Bestrebungen gegeben, die weibliche Genitalverstümmelung ebenso wie die männliche zu medikalisieren; man denke etwa an die diesbezüglichen Ausführungen von John Harvey Kellogg Ende des 19. Jahrhunderts in den USA.

Diese Dinge waren und sind auch vielen Juden bekannt. Hier sei auf die Schriften von Moses Maimonides verwiesen, der sehr klar auf die Wirkung der Beschneidung zur Reduktion der sexuellen Lust und Genussfähigkeit verwies und diese zur „Verbesserung der Sitten“ für erforderlich hielt.

Umgekehrt sind es vor allem auch jüdische Persönlichkeiten, die sich um Aufklärung und Veränderung bemühen; sie tragen Namen wie Ronald Goldman, Leonard Glick, Rosemary Romberg, Eliyahu Ungar-Sargon, Norm Cohen oder Avshalom Zoossmann-Diskin, um nur einige zu nennen. Sie haben Bücher geschrieben und Filme gedreht oder praktizieren den alternativen Ritus „Brit Shalom“ und der Verfasser dieser Zeilen hat intensive Gespräche mit ihnen geführt. Bereits im 19. Jahrhundert gab es übrigens in Deutschland entsprechende Reformbewegungen innerhalb des Judentums.

Kommentiert von Peter am 19. Februar 2015, 21:57 Uhr

Interessanter Vortrag von Herrn Gilman, gab das Nachfragen aus dem Publikum das er die weibl. Beschneidung der Klitorisvorhaut als ‚exactly equivalent‘ (Min 32.05) zur männlichen Beschneidung betrachtet?
Oder Min. 39:00: ‚In California, it is against the law to remove the foreskin of the clitoris of a little girl, and it is against the law to forbid anyone to remove the foreskin of a little boy‘

Kommentiert von Ralf Engelmann am 20. Februar 2015, 16:35 Uhr

Ralf Engelmann

Sehr geehrte Frau Wenzel,

in ihrer Antwort auf die Frage von Frau Fink bezüglich FGM haben sie das Video eines Vortrages von Sander Gilman verlinkt. Im Abspann dieses Videos steht „Copyright Jewish Museum Berlin 2013“

Dort sagt Herr Gilman bei 31:40:

„It is the kind of obsession of western feminism in the 1970s and 80s with female genital mutilation and with the notion that female genital mutilation is in effect something that is inherently unhealthy“

Leo.org sagt: „obsession“: die Besessenheit, fixe Idee, die Manie , die Obsession, die Zwangsvorstellung

Finden sie diese Ausdrucksweise in diesem Zusammenhang eigentlich angemessen? Ist FGM gar nicht schädlich? Hat der Bundestag geirrt, als er FGM bei hohen Strafen verboten hat?

Kommentiert von Rerun am 23. Februar 2015, 12:31 Uhr

Und so sieht das aus der Perspektive der geführten Besucher aus:

http://hpd.de/artikel/11286?nopaging=1

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