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Das Unsichtbare sichtbar machen

Samson II von Ernest Neuschul, 1923–1955, Ankauf, 2017

Gemälde in Brauntönen, das einen nackten Mann zeigt, der sich gegen ein zusammenfallendes Gebäude stützt

Ernest Neuschul, Samson II, 1924, Öl auf Leinwand, 100,5 x 138,5 x 2 cm (ohne Zierrahmen); Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2017/304/0, Misha und Khalil Norland, Foto: Roman März. Weitere Informationen zu diesem Gemälde finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Der 1895 in Aussig, im heutigen Tschechien, geborene Künstler Ernest Neuschul zählte in der Weimarer Republik zu den bekann­testen Malern der Neuen Sachlich­keit. Nach seiner Flucht nach Groß­britannien geriet er jedoch in Deutschland in Vergessen­heit. Für Samson II schaffte er ab 1923 ein Gesamt­kunstwerk, bestehend aus einem geschnitzten Zier­rahmen und dem Gemälde, mit einer für damalige Verhältnisse monumentalen Größe von 120 mal 155 Zentimeter mit Zierrahmen.

Auf einer groben, unregel­mäßig gewebten Lein­wand trug er in unter­schiedlicher Stärke Ölfarbe auf, sodass in einigen Bereichen zahl­reiche Schichten übereinander liegen, während an anderen Stellen unter der dünnen Farbe noch die Faden­struktur der Leinwand sichtbar ist. Das Gemälde zeigt die Szene, in der Samson durch das Nach­wachsen seiner Haare seine über­mensch­lichen Kräfte wieder­erlangt und den Tempel der Philister zum Einsturz bringt.

Ein Gemälde mit auffälliger Malschicht

Als das Gemälde Samson II in unsere Sammlung kam, fielen uns Restaurator*innen bei der ersten Zustands­untersuchung gleich mehrere Ungereimt­heiten an der Mal­schicht auf. Während an den meisten Stellen die Farbe graduell miteinander auf der Lein­wand vermischt wurde, um sanfte Farb­übergänge zu gestalten, zeugen andere sehr dicke Farb­bereiche mit un­gemischten Farben von späteren Über­malungen.

Um diese Auf­fällig­keiten berührungs­los untersuchen zu können, wurde das Gemälde mit unsicht­barer Strahlung im ultra­violetten, infra­roten und Röntgen­bereich be- und durch­leuchtet. Wir ver­glichen die ent­standenen Auf­nahmen mit dem Original und konnten nicht nur feststellen, dass der Künstler das Gemälde mehrfach über­arbeitet hatte, sondern auch, dass sich unter dem heute sichtbaren Gemälde eine Vor­version mit dem Titel Samson I befindet, von der eine schwarz-weiße Ab­bildung im Foto­album des Künstlers erhalten ist.

Restauratorische Spurensuche

Die Untersuchung mit UV-Strahlen zeigte auf dem Gemälde einen typischen Naturharz-Überzug, in dessen grünlicher Fluo­reszenz allerdings zahlreiche dunkle und fleckige Areale erkennbar waren. An diesen Stellen befinden sich Über­malungen in Ölfarbe, von denen teil­weise noch der stupfende Pinsel­duktus erkennbar ist.

Dagegen fluo­reszieren die weißen Zacken am Himmel auffällig rosa. Dies könnte darauf hinweisen, dass der Künstler hier eine bleiweiß­haltige Farbe auf den Firnis, dem transparenten Überzug zum Schutz des Gemäldes, aufgetragen hat.

Nahaufnahme des Gemäldes Samson II in Blautönen

Bei ultravioletter Bestrahlung sind dunkel die Übermalungen erkennbar; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Christoph Schmidt, Gemäldegalerie Berlin.

UV-Untersuchung

Bei der Unter­suchung mit ultravioletter Strahlung können Restau­rator*innen sowohl Naturharz­firnisse als auch verschiedene Pigmente durch ihre charakter­istische Fluo­reszenz, einem typischen Leuchten von Materialien nach der Bestrahlung mit UV-Strahlen, identifizieren.

Der Künstler fertigte mit Kohle Vor­zeichnungen auf der Grun­dierung seiner Gemälde an.1 Ein paar Linien dieser Vor­zeichnung konnten wir mit Hilfe der infraroten Strahlung in einem Bereich mit sehr dünnem Farb­auftrag tatsächlich entdecken. Darüber hinaus fanden wir mit Erstaunen mehrere Signaturen des Künstlers unter der heutigen Malschicht. Im Bereich der Kohle­unterzeichnung ist beispiels­weise das Künstler­kürzel „EN“ sichtbar. Zwei weitere Signaturen befinden sich in der rechten unteren Ecke, wovon eine ebenfalls auf dem Foto der Vorversion Samson I sichtbar ist.
Nahaufnahme des Gemäldes unter infraroter Beleuchtung, rote Pfeile zeigen die Kohle-Vorzeichnungen

Mittels infraroter Bestrahlung konnten Linien der Kohle-Vorzeichnung sichtbar gemacht werden; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Christoph Schmidt, Gemäldegalerie Berlin.

IRR-Untersuchung

Bei der Bestrahlung eines Gemäldes mit infraroter Strahlung, dringt diese durch die obersten Schichten hindurch und wird von tiefer liegenden Mal­schichten reflektiert. Dies ermöglicht es Restau­rator*innen, sichtbar zu machen, was sich unter den obersten Farbschichten verbirgt.

Mit Hilfe der Röntgen­strahlen ließ sich eine weitere Signatur entdecken. In der unteren Mitte hat Ernest Neuschul auf die bereits vorhandene Mal­schicht eine bleiweiß­haltige Farbe aufgebracht und in diese mit dem Pinselstil seinen Namen eingeritzt. Durch die Verdrängung der blei­haltigen Farbe, ist die Beschriftung in der Röntgen­aufnahme deutlich erkennbar.

Röntgenstrahlen

Wenn Gemälde einer Röntgenstrahlung ausgesetzt werden, durchdringen die Röntgenstrahlen das Werk und werden auf einem dahinter liegenden Film aufgezeichnet. Sie zeigen nicht nur Metallteile wie Nägel, sondern auch Schichten von Bleipigmentfarben, die die Röntgenstrahlen blockieren und auf den Bildern weiß erscheinen.

Langjährige Schaffensprozess

Durch die Unter­suchungen wissen wir nun, dass Ernest Neuschul zunächst auf einer Kohle­zeichung das Gemälde Samson I malte. Dieses ist rechts unten signiert mit „Ernest Neuschul / Sept. 1923“ und wird in einem Artikel vom 17. Januar 1924 sogar von Max Brod im Prager Abendblatt2 in einer Ausstellungs­beschreibung erwähnt.

In den darauf­folgenden Jahrzehnten, die für Ernest Neuschul von Krieg und Flucht geprägt waren, führte der Künstler zahl­reiche Ver­änderungen an seinem Gemälde durch. Die Komposition der Berge auf der rechten Seite wurde verändert, Details an Säulen und eine Kette am Fuß des Samson wurden übermalt, Signaturen geändert und der Himmel bekam eine drama­tischere Wetter­lage. Eine genaue Datierung der Über­malungen ist zwar mittels strahlen­technischer Unter­suchung nicht möglich, aber aus der Beschriftung der Fotos im Album des Künstlers erfuhren wir, dass diese Ver­änderungen in der Zeit bis 1955 ausgeführt wurden. Das Thema des Samson scheint den Künstler Ernest Neuschul mehr als 30 Jahre lang beschäftigt zu haben. Ein anderes Foto in diesem Album zeigt ein weiteres Gemälde mit dem Titel Samson III, das heute als verschollen gilt.

Franziska Lipp, Gemälderestauratorin


  1. Ernest Neuschul 1895 – 1968, Ausstellung des Hauses der Kunst der Stadt Brünn und des Museums Ostdeutsche Galerie Regensburg, Brno 2001, S. 79.↩︎

  2. Ernest Neuschul 1895 – 1968, Ausstellung des Hauses der Kunst der Stadt Brünn und des Museums Ostdeutsche Galerie Regensburg, Brno 2001, S. 101.↩︎

Zitierempfehlung:

Franziska Lipp (2021), Das Unsichtbare sichtbar machen. Samson II von Ernest Neuschul, 1923–1955, Ankauf, 2017.
URL: www.jmberlin.de/node/8433

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