Das Café Nagler kehrt zurück

Spuren eines Kaffeehauses

Es war für mich ein ganz besonderer Moment, als ich vor kurzem eine neue Sammlung für das Archiv auspacken konnte. Ein kleines Paket aus Tel Aviv lag vor mir. Die Absenderin war Mor Kaplansky, eine israelische Filmemacherin, mit der ich seit dem Frühjahr dieses Jahres korrespondiere.

Jörg Waßmer hält eine Fotografie des ehemaligen Café Nagler in die Kamera

Beim Auspacken der Sammlung von Familie Nagler; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Ulrike Neuwirth

Angefangen hatte alles im März, mit der Finissage von Nosh, der Jewish Food Week. In einem kleinen Café in Kreuzberg war der Dokumentarfilm Café Nagler gezeigt worden. In dem Film geht es um das einstige Kaffeehaus am Moritzplatz. Während vor Ort in Berlin nichts mehr auf die einstige Präsenz des Cafés verweist, werden bei den Nachfahren der Naglers in Israel die Erinnerungen bis heute wach gehalten. Der Film berührte mich sehr. Aufgeregt sah ich auf der Leinwand, dass Naomi, die Großmutter der Filmemacherin, Schätze wie ein Kaffeeservice mit dem Emblem des Cafés und Silberbesteck mit der Initiale »N« besitzt. Zu sehen waren auch Fotografien und verschiedene Dokumente. Wie gerne würde ich selbst in dieser Mappe mit Unterlagen blättern, dachte ich.

Als der Abspann zu Ende war, nahm ich sofort mein Handy und suchte auf Facebook nach Mor Kaplansky. Ich fand sie und schickte ihr eine Nachricht. Darin beglückwünschte ich sie zu ihrem Film und ließ sie wissen, dass das Jüdische Museum Berlin sich glücklich schätzen würde, wenn sie uns Dokumente, Fotografien und Objekte ihrer Familie überließe. Wenige Stunden später hatte ich bereits Antwort. Mor teilte mir mit, dass ihre Oma Naomi leider kürzlich verstorben sei, es aber sicherlich in ihrem Sinne wäre, wenn einige Erinnerungsstücke an das Café wieder nach Berlin zurückkehrten: »I would be more than honored to bring some of the Cafe’s artefacts to the museum.«

Seitdem stehen Mor und ich in Kontakt. Sie stellte auch die Verbindung zu Jon Altman her, einem Verwandten in Australien. Auch er war sofort bereit, dem Museum Dauerleihgaben zu überlassen. Das erste Paket, das hier eintraf, stammte aus Melbourne.

Detailaufnahme einer Hand in weißem Handschuh, die ein Siegel hält

Das Petschaft mit der Gravur »I. Nagler. Cafétier. Berlin«; Jüdisches Museum Berlin, Dauerleihgabe von Jon Altman, Foto: Jörg Waßmer

Beim Öffnen fand ich Silberbesteck, aber auch einen Stempel mit dem eingravierten Namen des »Cafétiers« Ignatz Nagler sowie zwei liebevolle Babytagebücher, die ab 1926 geführt wurden. Wenige Wochen später konnte ich auch das Paket aus Israel in Empfang nehmen, in dem sich 80 Dokumente und Fotografien verbargen. Mor hatte ein Verzeichnis beigefügt, in das sie nach bestem Wissen den kostbaren Inhalt aufgelistet hatte. Da sie selbst kein Deutsch versteht, geschweige denn alte deutsche Handschriften entziffern kann, hatte sie zu vielen Dokumenten ein Fragezeichen bzw. »unidentified« notieren müssen.

Mit großer Freude machte ich mich daran, die Sammlung zu inventarisieren. Dabei tauchte ich in die Familiengeschichte der Naglers ein. Ich begleitete Ignatz Nagler (1870–1929) von Czernowitz, der damaligen Hauptstadt der Bukowina, in die Großstadt Berlin. Hier arbeitete er ab 1896 in verschiedenen Restaurants und Cafés. Anhand der überlieferten Arbeitszeugnisse konnte ich seinen beruflichen Werdegang verfolgen, bis er sich schließlich selbständig machte und sein eigenes Kaffeehaus am Moritzplatz eröffnete. Ich hielt die Ketubba der Naglers in meinen Händen und konnte nach einigen Schwierigkeiten auch entziffern, in welcher Stadt die Trauung 1896 stattgefunden hatte: »Krone an der Brahe« stand da in krakeliger hebräischer Schrift. Ignatz Naglers Frau Rosa stammte aus der preußischen Provinz Westpreußen. Die beiden bekamen drei Kinder, deren Geburtsurkunden nun vor mir auf dem Schreibtisch lagen. Um den Überblick zu behalten und die Verwandtschaftsverhältnisse besser zu verstehen, zeichnete ich einen Stammbaum. Erst jetzt verstand ich, wie die Familie in Israel und der Familienzweig in Australien überhaupt miteinander verwandt sind. Durch die Erschließung der Sammlung erfuhr ich, wie sich die große Politik auf das Leben der Naglers immer wieder direkt auswirkte, sei es der Militärdienst während des Ersten Weltkrieges oder der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach dem Zerfall des Habsburgerreiches. Ich verfolgte den weiteren Weg der Familie, die in den 1920er Jahren nach Palästina auswanderte.

Dokumente und Fotos

Arbeitszeugnisse, Briefpapier und eine Ansichtskarte; Jüdisches Museum Berlin, Dauerleihgaben von Jon Altman und Familie Naomi Kaplansky, Foto: Jörg Waßmer

 

Sorgfältig studierte ich die überlieferten Innenaufnahmen vom Café Nagler und versuchte mir den Grundriss räumlich vorzustellen. Vor allem eine Ansicht weckte mein Interesse: Zu sehen ist ein großer Festsaal, der über zwei Stockwerke reicht und von einer Galerie umrahmt wird. Ich hegte von Anfang an meine Zweifel, dass sich ein solch repräsentativer Saal wirklich im »Nagler« befunden hatte. Nach Recherchen in diversen Bilddatenbanken hatte ich das Rätsel endlich gelöst! Natürlich musste ich die Neuigkeit sofort Mor mitteilen: »You’re such a detective!«, schrieb sie mir zurück, was ich nicht ohne Stolz hörte.

Am 27. November wird nun der Film Café Nagler im Museum öffentlich gezeigt. Mor Kaplansky wird auch da sein und sich im Anschluss den Fragen der Zuschauer*innen öffnen. Außerdem werde ich einige Highlights aus der Sammlung präsentieren – und dabei auch das Rätsel um die mysteriöse Aufnahme lüften.

Jörg Waßmer freut sich darauf, Mor Kaplansky persönlich kennenzulernen.

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