Die Illustration zeigt einen jungen Mann, der eine aus Puzzleteilen bestehende Wand erklimmt.

Kurt

Eine Spurensuche

Eine wahre Fundgrube an Geschichte(n) sind die derzeit rund 1.500 Familiensammlungen und Nachlässe, die im Archiv des Jüdischen Museums Berlin bewahrt werden: Sie dokumentieren und verdeutlichen deutsch-jüdische Geschichte anhand zahlreicher individueller Schicksale.

Forscher*innen können unsere Sammlungen im Lesesaal einsehen, um sie wissenschaftlich auszuwerten. Vorab jedoch müssen diese Bestände von den Mitarbeiter*innen des Museumsarchivs inventarisiert werden. Im Zuge einer solchen Erschließung können – mitunter durchaus umfangreiche – Hintergrundrecherchen erforderlich werden. Mit Geduld, Herzblut, der Hilfe von Dritten, etwas Erfahrung und ein wenig Glück lassen sich dadurch immer wieder Lücken schließen und Querverbindungen herstellen, so dass aus einzelnen Puzzleteilen allmählich ein größeres Bild entstehen kann.

Am Beispiel der Sammlung von Familie Oliven soll hier erzählt werden, welch umfassende und teils überraschende Erkenntnisse die Tiefenerschließung eines Bestandes zutage fördern kann. 
 

Halbausgepackte Kiste in einer Bibliothek, auf den Tisch im Vordergrund liegen Schwarz-Weiß-Fotos und weitere Dokumente, ein Archivmitarbeiter liest in einem der ausgepackten Alben

Die Sammlung von Familie Oliven wird ausgepackt; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Ulrike Neuwirth

Ausgangspunkt

2016 und 2018 kam die sehr umfangreiche Sammlung von Familie Oliven ins Archiv des Jüdischen Museums Berlin. Nachdem sie ausgepackt war, landete sie schließlich zur Inventarisierung auf dem Tisch eines Archivmitarbeiters. Neben Fotos, Tagebüchern und Dokumenten aus rund 200 Jahren Familiengeschichte gehört zu dieser Sammlung auch ein kleines Büchlein, das mit dem Goethe-Zitat Alles um Liebe betitelt und der Widmung „Für Klaus von Kurt“ versehen ist. 
 

Neben der Widmung klebt ein Foto von Kurt: Er schaut direkt in die Kamera, vielleicht etwas melancholisch. Und auf der Folgeseite steht in ordentlicher Handschrift: 
 

„Bücher sprechen zu einem / wenn man sie erhört. / Und dieses Büchlein spricht zu dir / wenn du es aufschlägst. / Es kann leise reden / wenn du es leise ansprichst / und es kann laut reden / wenn du es möchtest. / Es ist ohne Zusammenhang / und doch eine Kette. / Es ist Eines / und doch Vieles. / Bücher sprechen zu einem / wenn man sie erhört / und dieses Büchlein spricht zu dir. / Hör:“

Das Büchlein enthält niedergeschriebene Gedanken zu Fragen der Liebe, verschiedene Zitate und Gedichte, deren Urheber wir bislang nicht in jedem Fall zweifelsfrei klären konnten, sowie die Abschrift eines „Brief[es] aus Silingtal“, und ist darüber hinaus liebevoll illustriert - aber sehen Sie selbst: 
 

Schwarz-Weiß-Porträtfoto eines jungen Mannes, der direkt in die Kamera schaut. Er stützt den Ellbogen auf den Tisch auf, an dem er sitzt, seine Schläfe ist auf seiner linken, zur Faust geballten Hand aufgestützt

Porträt von Kurt aus dem Büchlein Alles um Liebe, ca. 1937/38; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/322, Schenkung von Familie Oliven

„Für Klaus von Kurt“

In welchem Verhältnis standen Klaus und Kurt? Klar war zunächst nur, wer Klaus ist: Klaus Oliven wurde 1918 in Berlin geboren und emigrierte 1939 nach Brasilien, wo er 2010 starb. Er steht im Mittelpunkt der vorliegenden Sammlung, die uns von seinen Kindern gestiftet wurde. Zahlreiche Dokumente aus seinem Leben sind überliefert, aber auch viele Fotos, auf denen er zu sehen ist. 
Aber wer ist eigentlich dieser Kurt?

Kurt [Unbekannt]

Im Büchlein selbst findet sich kein weiterer Hinweis auf Kurts Identität, nicht einmal sein Nachname ist erwähnt. Vielleicht ergeben sich im Laufe der weiteren Erschließung des Bestandes Anhaltspunkte zur Klärung seiner Identität?

Schwarz-Weiß-Porträt eines jungen Mannes mit Brille, der in die Kamera lächelt (Halbprofil)

Porträt von Klaus Oliven, fotografiert von Margot Neuding, Dresden, 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv-Nr. 2016/15/8, Schenkung von Familie Oliven

Sicha über Freundschaft

Zunächst geht also die Inventarisierung weiter. Einige Tage später ist ein Stapel mit Gesprächsprotokollen an der Reihe, die 1937/38 in Frankfurt am Main bei Treffen des Haschomer Hazair, einer jüdischen Jugendbewegung, entstanden sind. Aus anderen Dokumenten geht hervor, dass Klaus Oliven zu dieser Zeit Führer der Frankfurter Gruppe war, deren Gesprächskreis mit dem hebräischen Begriff „Sicha“ (Gespräch) bezeichnet wurde. 
 

Haschomer Hazair

Die sozialistisch-zionistische Jugendorganisation Haschomer Hazair wurde 1913/14 gegründet. Mehr bei Wikipedia

Im Protokoll der Sicha vom 30.I.38 über Freundschaft geht es um unterschiedliche Beziehungen zwischen Menschen, um Kameradschaft, Freundschaft, Flirts und Liebe:

„Der heutige Mensch sieht den anderen Menschen als Ware, als Ding an. […] Es gibt keine Freundschaft, es gibt nur Flirts, es gibt keine Liebe, es gibt nur Verhältnisse [...].“

Sind das nicht genau die Themen, um die auch das Büchlein Alles um Liebe kreist? Auch die Handschrift wirkt vertraut. Und tatsächlich! Das Protokoll ist unterzeichnet mit „Kurt Friedmann“, der 1938 offenbar ebenfalls in Frankfurt ansässig war.

Mit Handschrift eng beschriebenes Blatt Papier, das etwas vergilbt ist

Protokoll der Sicha über Freundschaft, erste Seite, 30. Januar 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/7, Schenkung von Familie Oliven

Unterschrift von Kurt Friedmann

Unterschrift von Kurt Friedmann unter dem Protokoll (Ausschnitt), 30. Januar 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/7, Schenkung von Familie Oliven

9 x Kurt

Das reicht als Ausgangspunkt für eine Recherche in der Residentenliste, einer Datenbank des Bundesarchivs, die mittlerweile in der 11. Auflage vorliegt und fortlaufend ergänzt und teilweise auch korrigiert wird.

Darin finden sich neun Einträge zu Personen mit dem Namen Kurt Friedmann sowie zwei weitere zu Personen mit dem Vornamen Curt. Der Älteste ist 1877 geboren, der Jüngste 1938. Der gesuchte Kurt müsste zwischen 1918 und 1925 geboren sein, so die Hypothese. Dazu passt leider keiner der Personendatensätze aus der Residentenliste, auch ist bei keinem als Wohnort Frankfurt am Main angegeben. Schade – so kommen wir hier nicht weiter.

Die Residenten­liste

Die Residentenliste umfasst Namen, Geburtsdaten und -orte, Wohnorte sowie Hinweise auf die Emigration oder Deportation von ca. 600.000 jüdischen Einwohner*innen des Deutschen Reichs von 1933 bis 1945. Sie kann in Berlin im Lesesaal des Bundesarchivs eingesehen werden. Adresse und Öffnungszeiten finden Sie hier: Website des Bundesarchivs Weitere Informationen zur Residentenliste bietet Die Liste der jüdischen Einwohner im Deutschen Reich 1933-1945 von Nicolai M. Zimmermann, der die Residentenliste mitentwickelt hat: Download

Tagebücher als Quelle

Bleibt die Hoffnung, dass die Sammlung Oliven, zu der auch 14 Tagebücher von Klaus gehören, weitere Anhaltspunkte liefern wird. Klaus Oliven berichtet in seinen Tagebüchern ausführlich darüber, dass er der jüdischen Jugendbewegung angehörte, zunächst dem Habonim Noar Chaluzi, dann ab 1936 dem Haschomer Hazair.

Jüdische Jugend­bewegung

Mehr bei Wikipedia

Seine Zeilen offenbaren viele interessante Details über das Vereinsleben, das bündische Erziehungsideal, inhaltlich-ideologische Diskussionen, aber auch über gemeinsame Unternehmungen wie Fahrten und Heimabende. Dort steht auch, dass der 19-jährige Klaus im Oktober 1937 von Berlin nach Frankfurt am Main ging, um dort das „Ken“, also die Ortsgruppe, zu leiten.

Und endlich taucht auch Kurt Friedmann wieder auf:

„An mich schloss sich gleich sehr eng Kurt Friedmann an. […] Wie ich kam, war er 17, wurde 18 Jahre. Ein hübscher Junge, ganz blond, nur hatte er sehr unreine Haut, viel Pickel im Gesicht. Er sprach richtig Frankfurterisch. Ein hochintelligenter Junge, mit eigenen Gedanken, auch künstlerisch begabt. Er zeichnete gut und machte für seine guten Freunde Büchlein mit Gedichten und Zeichnungen. […]. Auch mir machte er eins, als ich schon längst von Frankfurt weg war. Ein ganz eigenartiger, merkwürdiger Junge, aber der einzige von allen, um den es sich wirklich lohnte.“

Ein „Büchlein mit Gedichten und Zeichnungen“? – genau wie das Büchlein Alles um Liebe, das Sie weiter oben durchblättern konnten? 
 

Ein abgegriffenes Notizbuch mit schwarz-braunem Einband

Eines der Tagebücher von Klaus Oliven; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/10, Schenkung von Familie Oliven

Aufgeklappte, handschriftlich beschriebene Doppelseite

Tagebucheintrag von Klaus Oliven mit Erwähnung von Kurt Friedmann, Tagebuch Nr. 7 (Ausschnitt), Porto Alegre, 17. März 1940; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/10, Schenkung von Familie Oliven

Eine falsche Spur

Beflügelt von den neugewonnenen Erkenntnissen folgt ein neuerlicher Versuch, mehr über Kurt Friedmann zu erfahren: Auf einer kostenpflichtigen genealogischen Webseite findet sich tatsächlich ein privater Familienstammbaum, zu dem auch ein 1920 in Wiesbaden geborener und 2005 verstorbener Kurt Friedmann gehört. Wiesbaden ist nicht weit von Frankfurt – vielleicht handelt es sich um den Gesuchten?

Als die Eingabe „Kurt Friedmann 2005 Wiesbaden“ in eine Suchmaschine als ersten Treffer eine in Wiesbaden erschienene Publikation mit „Gedichten in Mundart von Kurt Friedmann“ liefert, steigt die Hoffnung, fündig geworden zu sein: Gedichte – das könnte passen, ebenso wie die (hessische) Mundart. Doch die schriftliche Nachfrage beim Genealogen und Ersteller des fraglichen Stammbaumes, die umgehend beantwortet wird, macht jede Hoffnung schnell wieder zunichte: Dieser Kurt Friedmann sei sein Vater und „nicht jüdisch“ gewesen.

Puzzleteile

Also bleiben fürs Erste nur die weitere Lektüre der Tagebücher von Klaus Oliven und die Hoffnung auf weitere Erwähnungen Kurt Friedmanns. Und tatsächlich: Wie Puzzleteile fügen sich nach und nach kleine Informationsfetzen zusammen, so dass allmählich ein vages Bild von Kurt Friedmann entsteht, freilich aus der Sicht seines Freundes Klaus:

Lieblingsbücher

Kurt und Klaus verband ihre Liebe zur Literatur. Zusammen mit anderen Freund*innen, ihren Chawerim und Chawerot, lasen sie Goethes Faust in verteilten Rollen – vielleicht landete deshalb später das Goethe-Zitat „Alles um Liebe“ auf dem Einband des kleinen Bändchens? Zu zweit lasen sie aber auch das kommunistische Manifest.

Aufgeklappte Doppelseite eines Fotoalbums, jede Seite ist mit zwei Schwarz-Weiß-Fotos beklebt, die jeweils zwei bis drei Jugendliche bei Ausflügen zeigen

Doppelseite aus dem Fotoalbum mit vier Fotos zum „Frankfurter Bund“, 1937/38. Abgebildet sind Kurt Friedmann, Fredi Katz (1921-1941 in Kaunas ermordet), Hans Löwenstamm, Erich Moses, Chajim Pinkus, Grete Schaumberg (1920-1941 in Riga ermordet), Ruth Sichel (1920-?), Rony [Unbekannt]; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/417/40, Schenkung von Familie Oliven

Bevor Klaus Oliven im Frühjahr 1938 Frankfurt verließ, veranstalteten die Mitglieder des Haschomer Hazair bei Kurt zu Hause einen „schönen Abschiedsneschef mit Schmonzes“, darunter verstanden sie einen literarischen Abend. Kurt hatte die Idee, dass jede*r die drei besten Stellen aus seinen*ihren Lieblingsbüchern vorlesen sollte. Kurts „Lieblingsbuch war Kästner’s: Fabian, und dann Fink: Schmerzenskinder.“

Auf Hachschara

Nicht nur Klaus sollte Frankfurt verlassen, sondern auch Kurt, denn er ging auf die Mittlere Hachschara. In der „Mi-Ha“ bereiteten sich 15- bis 17-Jährige auf die Auswanderung nach Palästina vor, indem sie landwirtschaftliche und handwerkliche Kenntnisse erwarben.

Die Widerstände, die es vorab zu überwinden galt, waren groß. Hans, Kurts vorheriger Gruppenführer, „hielt nämlich gar nichts von Kurt und wir bewerteten ihn völlig verschieden.“ Aber Klaus setzte sich für ihn ein und konnte schließlich auch Kurts Eltern von der Idee überzeugen. 
 

Buchumschlag: in Leinen gebunden, mit Autor, Titel und Untertitel, die in roter und hellblauer Schrift gesetzt sind.

Fabian. Die Geschichte eines Moralisten von Erich Kästner, Erstausgabe von 1931, Deutsche Verlags-Anstalt. Das Buchcover wurde von Georg Salter gestaltet; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. BIB/836/0, Schenkung von George Warburg

Da die Friedmanns mittellos waren, musste die Jüdische Gemeinde einen Zuschuss leisten. Schließlich erhielt Kurt die Bewilligung, auf ein landwirtschaftliches Gut nach Silingtal zu gehen. – Silingtal? Wo liegt denn das? Erst die Fernleihe eines Aufsatzes durch die Kolleg*innen unserer Bibliothek ermöglicht es, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen: Silingtal war ein weitgehend unbekanntes Auswandererlehrgut, das bei dem niederschlesischen Dorf Klein Silsterwitz lag. Es war vermutlich das einzige Hachschara-Lager, das zu diesem Zeitpunkt vom Haschomer Hazair betrieben wurde.

Hachschara

In diesen land­wirtschaftlichen Ausbildungs­einrichtungen wurden Jüdinnen*Juden vor allem in den 1920er und 1930er Jahren für eine Aus­wanderung nach Palästina vorbereitet. Mehr bei Wikipedia

Abreise aus Frankfurt

Am 1. März 1938 trennten sich dann die Wege der beiden Freunde. Klaus kehrte zu seiner Familie nach Berlin zurück, um von dort weiter nach Dresden zu gehen. Kurt hingegen fuhr nach Silingtal.

„[Er] reiste in der selben Nacht ab, wie ich, nur 5 Minuten später. […] Er fuhr wohl mit großen Erwartungen zur Hachschara. Er hatte sich vorgenommen, dort ein neues Leben zu beginnen, wollte auch so schnell wie möglich aus Frankfurt fort, da Dorle einige Tage vorher nach Amerika abgefahren war, was ihm natürlich sehr nahe ging, nachdem ihm schon mal auf diese Weise eine Freundin, die er sehr geliebt hatte, genommen wurde.“

Dorle war Kurts 15-jährige Freundin, die im Hutgeschäft seiner Mutter arbeitete. In sein Tagebuch notierte Klaus, Kurt habe ihm „ganz vertraulich“ intime Details aus seiner Beziehung zu Dorle anvertraut.

„Das Buch spricht für sich selbst“

Die beiden Freunde hielten auch nach ihrer Abreise aus Frankfurt weiter Kontakt. Darum wissen wir heute, dass sich Kurt in Silingtal nicht wohl fühlte und er vor allem Probleme mit dem dortigen Leiter hatte, den er als Diktator empfand. „Es war schade um Kurt, dass er sich nicht einordnen konnte“, notiert Klaus dazu in seinem Tagebuch.

Kurt blieb nicht lange, sondern kehrte schon nach ein paar Monaten wieder nach Frankfurt zurück. Klaus wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits in Dresden und war mit seiner neuen Freundin Margot, genannt Spatz, zusammen, als Kurt auf der Durchreise Halt machte: „Kurt erzählte Spatz soviel Gutes von mir, aus Frankfurt etc., dass sie ganz entrüstet war, wie ein Junge so verrückt von mir schwärmen könne.“ Auch Klaus war nach wie vor sehr von Kurt angetan und bezeichnete ihn als „einen, wenn auch merkwürdigen, so doch begabten und beeindruckbaren Jungen. Etwas Mädchenhaftes, schwärmerisches, weichliches hat er an sich.“

Die beiden korrespondierten weiter, Kurt jedoch heimlich, weil seine Familie den Umgang mit Klaus nicht gerne sah. Er arbeitete in Frankfurt. Mit seinem Einkommen konnte er sich mehr schlecht als recht über Wasser halten. Klaus griff ihm unter die Arme und schenkte ihm seinen Knickerbocker-Anzug.

„Von Frankfurt aus schickte er dann endlich das mir seit unserer Trennung in Frankfurt versprochene Büchlein. […] Allen Leuten, die er sehr gern hatte, hat er so eins gemacht. […] Das Buch spricht für sich selbst und ich hebe es sorgfältig auf [...].“

Diesen Vorsatz sollte Klaus zeitlebens beherzigen.

„Also herzl. שלום

Auch ein Teil der Korrespondenz von Klaus und Kurt ist in der Sammlung Oliven überliefert: Fünf Briefe und eine Postkarte, die Kurt zwischen dem 3. April und 10. August 1938 verfasste und fast alle in Silingtal aufgab. Nur den letzten Brief schrieb er bereits wieder aus Frankfurt am Main und verschickte ihn – „Anbei das langersehnte Buch“ – gemeinsam mit dem Büchlein Alles um Liebe.

Einem der früheren Briefe aus Silingtal hatte Kurt einen Brief an seine Eltern beigelegt, verbunden mit einer Bitte an Klaus:

„Sei so gut, kuvertiere ihn und schicke ihn an Isaak Friedmann Ffm, Eschersheimerlandstr. 5.“

Mehrere handschriftliche, übereinanderliegende Briefe

Briefe von Kurt Friedmann an Klaus Oliven, Silingtal und Frankfurt am Main, 3. April bis 10. August 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. Presse/2699/0, Schenkung von Familie Oliven

Detailansicht eines handschriftlichen Briefes

Postskriptum von Kurt Friedmann am Ende seines Briefes, Silingtal, 3. April 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/9, Schenkung von Familie Oliven

Das wiederum entpuppt sich bei der Recherche als Glücksfall, denn endlich gibt es eine neue Spur! Mit der konkreten Adresse lässt sich eine Anfrage beim Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main stellen, das tatsächlich noch am selben Tag antwortet: Kurt Josef Friedmann wurde am 21. September 1919 geboren und hatte eine vier Jahre jüngere Schwester, die Margot hieß. Seine Mutter Jenny Friedmann führte ein Modegeschäft in der Hochstraße 4. Ab 1934 wohnte die Familie dann in der Eschersheimer Landstraße. Der Vater Isaak Friedmann verstarb am 23. September 1938. 
In den Meldeunterlagen sei eine polnische Staatsangehörigkeit vermerkt. Die Kollegin aus Frankfurt vermutet deshalb, dass die Friedmanns im Rahmen der „Polenaktion“ im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben wurde.

Endlich geht es wieder voran!

Aufgrund dieser neuen Anhaltspunkte gelingt es über ein paar Umwege, weitere Informationen zu Kurts Familie zu finden: Ein Sohn von Kurts Cousine, die hochbetagt in Jerusalem lebt, lässt sich im Internet ausfindig machen. Dankenswerterweise stellt er den Kontakt zu David her, dem Sohn von Kurts Schwester Margot. Er lebt in England und ist vollkommen überrascht von der E-Mail aus dem Jüdischen Museum Berlin.

Detailansicht von zwei Händen – in der rechten Hand befindet sich ein Bleistift – über einem Blatt Papier mit einem Stammbaum, oben im Bild sieht man angeschnitten das Büchlein „Alles um Liebe“ und das Protokoll von Kurt Friedmann

Ein Stammbaum der Familie Friedmann muss her, um den Überblick zu behalten; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jörg Waßmer

„My Uncle“

David antwortet:

Unfortunately my mother passed away some 19 years ago, and when she was alive she did not talk a lot about her life in Germany, maybe she just wanted to try and forget about the horrors. What I do know is that she mentioned that my uncle, whom my father called ‘The Communist’ wished to travel to Russia instead of accompanying my mother and grandmother to England. That’s really where the story ends, as he was never heard from again. […] Bizarrely, your email came a week after my wife and I travelled to Yad Vashem in Jerusalem and I tried to gain more information on my uncle whilst we were there. Alas without any success.“ 
(Leider ist meine Mutter vor 19 Jahren verstorben, und als sie noch lebte, erzählte sie wenig von ihrem Leben in Deutschland – vielleicht versuchte sie so, die Gräuel zu vergessen. Ich erinnere mich aber, dass sie einmal erwähnte, dass mein Onkel, der von meinem Vater ‚der Kommunist‘ genannt wurde, lieber nach Russland gehen wollte, statt meine Mutter und Großmutter nach England zu begleiten. Und damit endet diese Geschichte, denn keiner hörte jemals wieder von ihm. […] Bizarrerweise bekam ich Ihre E-Mail eine Woche nach einer Reise, die meine Frau und ich nach Yad Vashem in Jerusalem unternommen hatten, und während der ich versucht hatte, mehr über meinen Onkel zu erfahren. Doch leider ohne jeden Erfolg.)

Schwarz-Weiß-Porträtfoto eines jungen Mannes, der direkt in die Kamera schaut. Er stützt den Ellbogen auf den Tisch auf, an dem er sitzt, seine Schläfe ist auf seiner linken, zur Faust geballten Hand aufgestützt

Porträt von Kurt Friedmann, ca. 1937/38; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/322, Schenkung von Familie Oliven

Immerhin konnte das Archiv des Jüdischen Museums David aber Reproduktionen zweier Fotos seiner Mutter Margot aus einem der Fotoalben aus der Sammlung von Familie Oliven überreichen: Dort sind diese Fotos neben einem Foto von Kurt eingeklebt und beschriftet mit „Kurts Schwester“. David ist überwältigt - nie zuvor hat er ein Foto seiner Mutter als junges Mädchen gesehen.

Zwei Schwarz-Weiß-Porträtfotos einer jungen Frau

Zwei Porträts von Margot Friedmann, die auf der Rückseite jeweils mit einer Widmung versehen wurden: „Für Dich.- 3.12.1938“ bzw. „Denk manchmal an mich.- 23.2.39“; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/417/42/003 (linkes Bild) und Inv.-Nr. 2016/417/42/002 (rechtes Bild), Schenkung von Familie Oliven

Gedenkblatt in Yad Vashem

Wie sich aufgrund dieses Kontakts ebenfalls herausstellt, hatte David bereits vor rund 40 Jahren in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ein Gedenkblatt für seinen Onkel hinterlegt. Da es aber auf den Namen „Joseph Friedmann“ ausgestellt ist und der erste Vorname Kurt darin nicht erwähnt wird, war eine frühere Recherche des Archivmitarbeiters in der Online-Datenbank Yad Vashems erfolglos geblieben.

In diesem Gedenkblatt aus dem Jahr 1980 ist Russland als mutmaßlicher Aufenthaltsort während des Krieges angegeben, während Kurt Friedmann beim International Tracing Service in Bad Arolsen seit seiner Abschiebung im Rahmen der „Polenaktion“ als „verschollen“ gilt.

Abschiebung aus Deutschland

Einer der letzten, der Kurt Friedmann in Deutschland begegnet sein dürfte, war wiederum Klaus Oliven. Im neunten Band seiner Tagebücher schildert er die „Polenaktion“ im Oktober 1938: Damals wurden mindestens 17.000 im Deutschen Reich lebende Jüdinnen*Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaftet, an die Grenze verbracht und gewaltsam abgeschoben. Klaus wohnte zu diesem Zeitpunkt noch in Dresden und erlebte das damit verbundene Elend aus nächster Nähe:

„Die meisten Züge mussten auf ihrem Weg zur polnischen Grenze Dresden passieren. Die Gemeinde hatte von der Staatspolizei die Genehmigung bekommen, einen Hilfs- und Verpflegungsdienst am Bahnhof für die Durchfahrenden einzurichten.“

Yad Vashem

Yad Vashem ist eine israelische Gedenkstätte. Sie beschäftigt sich mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung und ihrer wissenschaftlichen Dokumention. Mehr bei Wikipedia Website von Yad Vashem

Internationaler Suchdienst

Informationszentrum in der nordhessischen Stadt Bad Arolsen, deren Aufgabe u.a. in der Klärung von Schicksalen Verfolgter des NS-Regimes und in der Suche nach deren Familienangehörigen besteht. Mehr bei Wikipedia Website des Internationalen Suchdiensts

Klaus Oliven und Chawerim*ot meldeten sich als freiwillige Helfer. Sie verteilten Lebensmittel wie heiße Suppe, aber auch Getränke, Hygieneartikel und Arzneimittel sowie frankierte Postkarten, damit die Abgeschobenen Angehörige benachrichtigen konnten. Klaus berichtet weiter:

„Auch aus Frankfurt kamen Züge durch und in einem fand ich viele alte Frankfurter Freunde. Kurt, seine Schwester Margot, seine Mutter (der Vater, so erfuhr ich auf dem Bahnsteig, war inzwischen gestorben). […] Der Zug hielt lange, und ich hatte etwas Zeit, mit ihnen zu sprechen. […] Kurt setzte sich beinahe auf den Hintern, als er mich sah. Das hätte er nicht gedacht.“

Weiter erwähnt Klaus, dass Margot und ihre Mutter nach Frankfurt zurückkehren konnten: „Nur Kurt war nach Polen rübergekommen“. „Von Kurt haben wir nun 4 Wochen keine Nachricht mehr“, schrieb Kurts Schwester Margot im Dezember 1938 an Klaus Oliven. „Doch von Bekannten hörten wir, dass es Ihm leider nicht besonders geht, da er keine Arbeit hat und vom Komittée lebt.

Hier verliert sich die Spur des damals 19-jährigen Kurt Friedmann.

Schwarz-Weiß-Foto eines jungen Mannes in kurzen Hosen und weißem Hemd, der waghalsig eine Brandmauer erklimmt

Kurt Friedmann beim Klettern auf einer Mauer, ca. 1937/38; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/417/42/001, Schenkung von Familie Oliven

Offene Fragen

Um eine Antwort auf die große Frage nach dem Verbleib Kurt Friedmanns zu finden, fehlt uns bislang leider jeder Anhaltspunkt. Vermutlich sind wir hier am Ende unserer Möglichkeiten angelangt, sein weiteres Schicksal aufzuklären. Hoffnung besteht eher, kleinere Fragen beantworten zu können, die im Zuge der beschriebenen Recherchen noch offen bleiben mussten.

In seinen Tagebüchern erwähnt Klaus Oliven mehrfach, dass Kurt auch anderen Freund*innen ähnliche Büchlein wie das hier vorgestellte mit Gedichten und Zeichnungen geschenkt habe:

  • Einer der genannten Freunde war Kurt Sommerfeld. Seine Identität ließ sich nicht zweifelsfrei klären. Manches deutet darauf hin, dass er 1939 im Exil in London den Freitod wählte. Unklar ist dementsprechend auch, ob sein Nachlass irgendwo erhalten geblieben ist.
  • Auch Bella Reiner, die später Xiel Federmann heiratete, soll ein Büchlein geschenkt bekommen haben. Als das Archiv ihren Sohn in Israel kontaktiert, teilt er mit, dass sich im Nachlass der 2011 Verstorbenen leider kein solches Büchlein befinde.
  • Bislang nicht aufklären ließ sich das weitere Schicksal von Kurt Friedmanns Freundin Dorle, die in die USA emigrierte. Auch sie soll ein Büchlein bekommen haben. Aber weder sie noch etwaige Kinder konnten bislang ausfindig gemacht werden.
  • Haben noch weitere Freund*innen Kurt Friedmanns solche Büchlein erhalten, finden sie sich eventuell noch bei den Empfänger*innen oder in deren Nachlässen?

Können Sie weiterhelfen? Kennen Sie weitere Spuren?

Jörg Waßmer

Kontakt

Archiv
T +49 (0)30 259 93 318
archive@jmberlin.de

Zitierempfehlung:

Jörg Waßmer (2018), Kurt. Eine Spurensuche.
URL: www.jmberlin.de/node/5803

Blick hinter die Kulissen: Anekdoten und spannende Funde bei der Arbeit mit unseren Sammlungen (21)

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