Schwarz-weiß-Foto eines Mannes, dem ein anderer Mann ein Skalpell an den Oberarm hält und der in die Kamera lächelt

Von den Kuhpocken bis zu Covid-19

Impf­bescheinigungen aus rund 200 Jahren in unserem Archiv

Als Mitte des 14. Jahr­hunderts in Europa die Pest grassierte, versuchte sich die Bevölkerung mit Tüchern vor dem Gesicht zu schützen, mit duftenden Kräutern und Rosen­wasser. Eine wirksame Behandlungs­methode gab es nicht, auch wenn man mithilfe von Aderlass und Brech­mitteln hoffte, die Krankheits­erreger aus dem Körper befördern zu können. Im Verlauf der Epidemie setzte man auf Isolierung der Kranken, kenn­zeichnete ihre Häuser oder zwang sie, in Unter­künfte außerhalb der Städte zu ziehen. Ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung starb an der Pest.

Doch nicht nur die Krankheit grassierte, sondern auch Verschwörungs­theorien. Man beschuldigte vor allem Jüdinnen*Juden, den „Schwarzen Tod“ zu verursachen. Der Vorwurf der Brunnen­vergiftung führte vieler­orts zu mörderischen Pogromen.

Uns begleitet nun seit einem Jahr das Virus Covid-19 als hoch­ansteckende Infektions­krankheit, die sich innerhalb weniger Monate über den Erdball verbreitet und bisher mehr als 5,5 Millionen Tote gefordert hat (Stand Januar 2022). Gleich­zeitig stilisieren sich einige Impf­gegner*innen und Corona-Leugner*innen zu Opfern, imaginieren sich als Anne Frank oder heften sich einen Juden­stern mit dem Aufdruck „ungeimpft“ an.

Die Erforschung und Produktion von Impf­stoffen und ihre Verabreichung seit Dezember 2020 haben uns Archivar*innen Dokumente in Erinnerung gerufen, die in vielen unserer Familien­sammlungen über­liefert und plötzlich von ganz aktueller Bedeutung sind: Impf­bescheinigungen.

Lithografie: Zwei Aasgeier sitzen auf einem Baum links am Bildrand. Im Vordergrund ein Wildhund mit gestreiftem Schwanz, im Hintergrund Andeutung einer Stadt, darüber die tiefstehende Sonne.

Rafaello Busoni, Pest. Aus der Mappe: Die 10 Plagen, Berlin: Hans Striem Verlag ca. 1925–1928; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. GDR 93/1/6, Foto: Jens Ziehe, © Mario Busoni. Weitere Informationen zu diesem Objekt in unseren Online-Sammlungen

Die Entwicklung von Impfstoffen

Die Entwicklung von Impf­verfahren und wirksamen Impf­stoffen, wie wir sie heute kennen, beginnt erst Ende des 18. Jahr­hunderts mit einem Wirkstoff gegen die damals weit verbreiteten Pocken. Die Entdeckung von Bakterien und Viren als Krankheits­erregern ermöglichte im Laufe der weiteren Medizin­geschichte die Herstellung von Impf­stoffen auch gegen Cholera, Diphterie, Masern, Tollwut oder Typhus.

Die Zahl der Infektions­krankheiten ist groß, es tauchten in der Vergangenheit immer wieder neue Erreger auf, und nicht gegen alle konnte die Wissen­schaft wirksame Mittel finden. Von 1918 bis 1920 erkrankten in mehreren Wellen weltweit ca. 500 Millionen an der „Spanischen Grippe“, von denen schätzungs­weise zwischen 50 und 100 Millionen starben. Einen Impfstoff gegen die Krankheit gab es nicht. In den 1980er Jahren hörte man erstmals von AIDS, und noch heute wird an einem Impfstoff geforscht, der gegen eine HIV-Infektion schützt .

„Es gibt so gut wie gar keine Impfgegner unter den Juden.“ (Maurice Fishberg, 1908)

Jüdische Haltungen zum Impfen

Das Judentum stand und steht der Impfung gegen ansteckende Krank­heiten sehr offen gegenüber, denn jüdisches Gesetz fordert, das eigene Leben und das der anderen zu schützen. Bereits vor mehr als 100 Jahren stellte der US-amerikanische Arzt und Anthropologe Maurice Fishberg (1872–1934), der selbst Jude war, in der Zeitschrift für Demo­graphie und Statistik der Juden fest:

„Tatsächlich ist es jedem Arzt, der Erfahrungen an Juden besitzt, wohl­bekannt, daß sie immer bereit sind, von irgendeiner neuen Methode der Vorbeugung oder Behandlung von Krank­heiten Nutzen zu ziehen. Es gibt so gut wie gar keine Impf­gegner unter ihnen, noch irgend welche andere Art von Aber­glauben, die sie veranlassen könnte, den Impfungs­versuchen der Sanitäts­behörden zu wider­streben. Ferner ist die jüdische Geistlich­keit immer dafür, ärztliche Dinge den Ärzten zu überlassen.“ (Beitrag „Die angebliche Rassen-Immunität der Juden“, 1908)

Selbst­verständlich gibt es Jüdinnen*Juden, die sich nicht impfen lassen, aber eine dezidierte Ablehnung des Impf­wesens per se blieb und bleibt die Ausnahme.

Hand mit medizinischem Handschuh hält eine Spritze

Spritze mit Impfstoff; CC-BY 2.0, Foto: Tim Reckmann, via Flickr

Die historische Bedeutung von Impf­bescheinigungen

Dass Impf­bescheinigungen die Jahrzehnte hindurch so zahlreich erhalten geblieben sind, zeugt davon, wie wichtig diese Dokumente in ihrer Entstehungs­zeit waren, nicht zuletzt, da im Deutschen Reich seit 1874 eine Impfpflicht gegen Pocken herrschte, die in der Bundes­republik erst 1976 aufgehoben wurde. In der DDR galt die Impfflicht sogar bis zu deren Auflösung und ihrem Beitritt zur Bundes­republik Deutschland 1990.

Impf­bescheinigung konnten auch im über­tragenen Sinne lebens­rettend sein.

Das sorgfältige Auf­bewahren von Impf­bescheinigungen diente als Nachweis, dass man der gesetzlichen Pflicht Genüge getan hatte. Sie mussten häufig vor Aufnahme in die Volks­schule vorgelegt werden. In einem Schüler*innen­verzeichnis der Jüdischen Schule zu Emden, das zwischen 1890 und 1940 geführt wurde, ist auch das Impf­datum aller Schüler*innen fein­säuberlich vermerkt.

Aber auch bei der Emigration, insbesondere in der NS-Zeit, konnten sie von entscheidender Bedeutung sein. Denn häufig war der Nachweis einer Impfung Voraussetzung für den Erhalt eines Einreise­visums. Eine Impfung und die dazugehörige Impf­bescheinigung konnten also auch im über­tragenen Sinne lebens­rettend sein.

Stockfleckiges aufgeschlagenes Schülerverzeichnis mit Name des Kindes, Geburtsdatum, Geburtsort, Name und Wohnung der Eltern, Datum des Schuleintritts, Impfungen, Bemerkungen (wie z. B. Emigration) und Datum der Schulentlassung, handschriftlich ausgefüllt

Schülerverzeichnis der Jüdischen Schule zu Emden, 1890–1940; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2015/262/1, Schenkung von Familie Leufgen

Das Reichsimpfgesetz von 1874

Am 8. April 1874 wurde mit dem Reichs­impfgesetz die Impfpflicht im Deutschen Reich eingeführt. Voraus­gegangen waren 1870 und 1873 große Pocken­epidemien. Fortan war die Pocken-Schutz­impfung verpflichtend für Kinder „vor Ablauf des auf das Geburts­jahr folgenden Kalender­jahres“ und eine Wieder­impfung im zwölften Lebens­jahr vorgeschrieben. Bei Nicht­beachtung drohte den Erziehungs­berechtigten eine Geld­strafe oder sogar Haft. Die Impfung war kostenlos.

Im Archiv bewahren wir aus dem gesamten Reichs­gebiet Impf­bescheinigungen zu diesen Pocken-Schutz­impfungen auf: Die Formulare ähneln sich meist, können aber je nach Region und Zeit variieren. Für die erste Impfung von Klein­kindern war das Formular in der Regel rot, für die Wieder­impfung grün. Zumeist steht der Name des*der Geimpften, das Geburts­datum und das Datum der Impfung sowie der Name der impfenden Ärzt*innen auf den Dokumenten.

Fünf Impfbescheinigungen, zwei davon rot, drei Grün

Dutzende, ja Hunderte Impf­bescheinigungen aus dem Kaiser­reich, der Weimarer Republik und der NS-Zeit sind in den Familien­sammlungen enthalten. Seit 1874 sind meist zwei Impf­bescheinigungen pro Person überliefert. Bei Ruth Grabowski (1907–1981) aus Berlin sind es sogar fünf, da sie dreimal, wie auf den Formularen steht, „ohne Erfolg“ geimpft wurde und die Impfung daher im folgenden Jahr wieder­holt werden musste; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/178/30-34, Schenkung von Ekkehard Rentrop. Zu den einzelnen Impfscheinen in unseren Online-Sammlungen

Die ältesten Impf­bescheinigungen

Die älteste Impf­bescheinigung in unserem Bestand ist lange vor der Einführung der Impfflicht entstanden. 1844 erhielt Salomon Pollak, gebürtig aus Proßnitz in Mähren (tschech. Prostějov), ein „Kuhpocken­impfungs-Zeugnis“ ausgestellt.

Handschriftlich ausgefülltes Kuhpockenimpfungs-Zeugnis für den 26-jährigen Salomon Pollak, 10 Zeilen, Unterschrift unleserlich, Impfdatum: 30.7.1844.

Kuhpocken­impfungs­zeugnis für Salomon Pollak; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2001/211/6

„Kuhpocken“ befallen keineswegs nur Rinder, wie der Name nahelegt, sondern auch andere Säuge­tiere und sogar Menschen können daran erkranken. Sie sind jedoch für den Menschen weitgehend ungefährlich. Der englische Arzt Edward Jenner (1749–1823) fand heraus, dass Menschen durch die Injektion von Kuhpocken-Viren gegen die tödlichen normalen Pocken-Viren immunisiert werden.

„Vakzination“ wird abgeleitet vom lateinischen Wort „vacca“ für die Kuh.

Diese Methode wandte er 1796 erstmalig an und nannte sie „Vakzination“, abgeleitet vom lateinischen Wort „vacca“ für die Kuh. Im Habsburger­reich fand diese Methode rasch Verbreitung, und auch in anderen Ländern lieferte sie einen wichtigen Baustein für die flächen­deckende Bekämpfung der Pocken. Dank dieser Impfung ist die Krankheit heute weltweit ausgerottet.

Salomon Pollak hatte die Impfung bereits am 30. Juli 1818 verabreicht bekommen, doch der spätere Medizin­student benötigte offenbar nachträglich diese Bescheinigung im Zusammen­hang mit der Ausübung des Arzt­berufs. Die „echten Kuhpocken“, die man ihm zur Immunisierung gegen die normalen Pocken injiziert hatte, habe er „ordentlich überstanden“, heißt es in dem Dokument. Da Injektions­spritzen erst 30 Jahre später Verbreitung fanden, wurde bei Pollak 1818 bei der Impfung noch die Haut aufgeritzt und der Impfstoff direkt in die Wunde eingebracht.

Jüdische Impfärzt*innen

Ein Großteil der Impf­bescheinigungen in unserem Archiv ist von jüdischen (Impf-)Ärzten ausgestellt. Sie enthalten insofern nicht nur Informationen über die Geimpften, aus deren Nachlass sie stammen, sondern sie sagen auch etwas über die berufliche Tätigkeit der Ärzte aus.

Daneben sind in den Familien­nachlässen auch weitere Dokumente der impfenden Mediziner überliefert. Sie finden sich unter all den Ausbildungs- bzw. Berufs­papieren der jüdischen Ärzte, deren Leben im Archiv dokumentiert sind.

In den Massen­heeren verbreiteten sich Infektions­krankheiten unter den Soldaten schnell.

Im Ersten Weltkrieg

Auch in den Sold­büchern von deutsch-jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg kämpften, finden sich immer wieder Hinweise auf Impfungen. Denn in den Massen­heeren verbreiteten sich Infektions­krankheiten unter den Soldaten schnell – trotz des Ausbaus von Quarantäne­stationen, Epidemie-Spitälern oder Desinfektions­anstalten.

Deckblatt und Seite mit den Impfbescheinigungen aus einem gehefteten Soldbuch: Vordruck, handschriftlich ausgefüllt, Zossen, Neukölln, 3.-21.7.1917

Der Musketier Daniel Siesel (1897–1978) aus dem hessischen Glauberg etwa bekam 1917/18 Impfungen gegen „Pocken“, „Typhus“ und „Cholera“ verabreicht; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/23/23, Schenkung von Susana Mayer

Schwarz-weiß-Foto eines Friedhofs, darüber das Porträtfoto eines Soldaten

An „Fleckfieber“, d.h. Typhus, starb z. B. der Soldat Julius Weinberg im Alter von nur 33 Jahren im Lazarett in Damaskus. Im Archiv ist das an seine Witwe gesandte Telegramm mit der Todes­nachricht erhalten, das Sie auch in unserem Online-Feature 12 von 12.000 finden.

Emigrations­papiere

Für die Emigration in andere Länder benötigte man in der Regel neben vielen anderen Dokumenten auch eine Impf­bescheinigung. Im Handbuch für die jüdische Aus­wanderung, 1938 im Philo-Verlag erschienen, widmen sich gleich mehrere Lexikon­einträge dem „Impfschutz“, der „Impfung“ und der „Schutz­impfung“. Dort heißt es:

„Pocken-S. f. d. meisten Auswanderungs­länder verlangt. Cholera- u. Typhus-S. bei Leben in od. Reisen durch verseuchtes Gebiet ratsam.“

„Pocken-S[chutzimpfung] f[ür] d[ie] meisten Auswanderungs­länder verlangt. Cholera- u[nd] Typhus-S[chutzimpfung] bei Leben in od[er] Reisen durch verseuchtes Gebiet ratsam.“
Abschnitt über Impfregelungen und Quarantäne in hebräischer Sprache, siehe Transkript unter dem Bild

Abschnitt aus dem Einwanderungs­zertifikat für Palästina, in dem die Impfung geregelt wird; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2004/61/5, Schenkung von I. Dinah Haller

Abschnitt aus dem Zertifikat (Transkription und Übersetzung)

קרנטינה

1)
כל עולה מקבל זריקות נגד טיפוס ונגד אבעבועות (מזריקה נגד אבעבועות פטורים אם יש תעודה המוכיחה שהרכיבו לעולה אבעבעות בחו"ל בתוך 3 השנים האחרונות ושהזריקה נקלטה אז).**)

2)
אם עפ"י פקודת הרופא הממשלתי בחוף א"י נערכת קרנטינה לעולים, שבאו באותה האניה – צריכים העולים להוציא לפני כניסתם לקרנטינה את החפצים הנחוצים ביותר (לבנים יכו') מפני שאת יתר החפצים יוכלו לקבל רק למחרת או אחרי צאתם מהקרנטינה.

Quarantäne

1) Jeder Einwanderer erhält Injektionen gegen Typhus und Pocken (eine Injektion gegen Pocken wird ausgenommen, wenn eine Bescheinigung vorliegt, aus der hervorgeht, dass der Einwanderer im Ausland in den letzten 3 Jahren gegen Pocken geimpft wurde und die Injektion gewirkt hat). **)

2) Wenn auf Anordnung des Regierungsarztes an der Küste von Eretz Israel eine Quarantäne für Einwanderer durchgeführt wird, die auf demselben Schiff angekommen sind, müssen die Einwanderer die wichtigsten Gegenstände (Wäsche usw.) mitnehmen, bevor sie die Quarantäne antreten, da die restlichen Gegenstände erst am nächsten Tag oder nach der Quarantäne empfangen werden können.

In den Einwanderer­zertifikaten für Palästina wurde sogar vermerkt, dass alle Ein­wander*innen bei Ankunft im Britischen Mandatsgebiet eine Impfung gegen Typhus und Pocken erhalten. Bei Vorlage einer innerhalb der voran­gegangenen drei Jahren ausgestellten Impf­bescheinigung entfiel diese Zwangs­impfung. Dies war der Fall bei Heinz Katz (1902–1969), der sich in Darmstadt am 18. Juli 1935 gegen beide Krank­heiten impfen ließ, wie ihm auf zwei „Amts­ärztlichen Zeugnissen“ formlos bescheinigt wurde. Kurz darauf emigrierte er mit seiner Ehefrau nach Palästina.

Einwanderungs­zertifikat

Ein solches brauchten jüdische Ein­wander*innen für Palästina unter britischem Mandat.
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Edith Adler (1913–?), die mit ihrem Ehemann nach Argentinien aus­wandern wollte, wurde vom Gesundheits­amt Frankfurt am Main bescheinigt, dass sie

„[...] nicht an ansteckender Krankheit, noch an Geistes­krankheit, Lepra, Elefantiasis, Krebs, Tuberkulose leidet; nicht blind oder stumm ist, noch Anzeichen einer Lähmung hat, die sie arbeitsunfähig macht“.

Elefantiasis

Elefantiasis ist eine abnorme Ver­größerung eines Körper­teils durch einen Lymph­stau.

Mehr bei Wikipedia

Am 22. Dezember 1938 wurde Edith Adler „gegen Pocken geimpft“. Nachdem sie im März 1939 im Kranken­haus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt auch „gegen Typhus geimpft“ worden war, emigrierte sie über Frankreich nach Bolivien. In La Paz wurde die 26-Jährige im Oktober 1939 erneut gegen „Viruela“ (Pocken) geimpft.

Schwarz-weiß Foto einer jungen Frau

Passfoto aus dem Leumunds-Zeugnis für Edith Adler (1913–?); Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/16/37, Schenkung von Viola Bikerman and Harriet Thomsen. Zum gesamten Dokument in unseren Online-Sammlungen

In Schanghai

Aus dem Exil in Schanghai besitzen wir über­proportional viele Impf­dokumente, mehr als aus anderen Exilländern. Dies mag damit zusammen­hängen, dass fast alle dorthin Geflüchteten nach Ende des Zweiten Weltkrieges in andere Länder weiter emigrierten, eine kleine Anzahl kehrte sogar nach Deutschland zurück.

Schwarz-weiß-Foto eines Mannes, dem ein anderer Mann ein Skalpell an den Oberarm hält und der in die Kamera lächelt

Rudolf Jorysz (1906–1998) beim Impfen im Kranken­haus des American Jewish Joint Distribution Committee in Schanghai; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/265/19, Schenkung von Hans Richard Jorysz

Die Impf­bescheinigungen, alle nach Ende des Krieges ausgestellt, wurden deshalb als Teil der Emigrations­papiere aufbewahrt und waren besonders wichtig. Dass sie auch teilweise als amtliche Ausweis­dokumente galten, wird im Falle der Dokumente aus Schanghai besonders deutlich. Hier sind sogar Passfotos eingeklebt und sie wurden eigen­händig unterschrieben.

 Collage Vorderseiten und aufgeschlagene Impfbescheinigungen für Abraham und Cilly Meyer: mit Passfoto, geheftet, Vordruck, handschriftlich ausgefüllt, englisch, chinesisch, Schanghai, 1.10.1947

Abraham Meyer (1881–1950) und seine Ehefrau Cilly (1889–1978) waren aus Hamburg nach Schanghai geflohen und mussten von Februar 1943 bis zum Ende des Krieges in dem von der japanischen Besatzungs­macht errichteten Ghetto leben. Am 1. Oktober 1947 wurden sie gegen Cholera und Typhus geimpft. Im Januar 1948 konnten sie schließlich von Schanghai in die USA auswandern; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2011/242/29+50, Schenkung von Trude Meyer

Geimpfte Soldaten

Zu deutsch-jüdischen Soldaten, die in alliierten Armeen im Zweiten Weltkrieg gegen das national­sozialistische Deutschland kämpften, haben wir sehr viel weniger Dokumente als zum Militär­dienst im Ersten Weltkrieg. Aber von Rudolf Mariam (1912–2002), 1938 in die USA emigriert, ist ein „Immunization Register“ überliefert. Als Angehöriger der US-Army wurde ihm bescheinigt, dass er gegen „Smallpox“ (Pocken), „Triple Typhoid“, „Tetanus“ und „Yellow Fever“ (Gelbfieber) geimpft war.

Aus dem Jahr 1958 datiert der Militär­ausweis des gebürtigen Berliners Willi Löhr (geb. 1937), dessen Mutter in Auschwitz ermordet worden war. Er war Mitte der 1950er Jahre nach Israel ausgewandert und diente dort in der Armee. In seinem Ausweis sind neben seiner Blut­gruppe auch verschiedene Impfungen verzeichnet.

Impfscheine als allgemein­geschichtliche Zeugnisse

Impf­bescheinigungen sind nicht nur wichtige historische Zeugnisse der Medizin­geschichte. Sie können auch individuelle biografische Informationen enthalten. So ist bei dem 12-Jährigen Jonni Teicher (1924–2017) aus Berlin bei seiner Wieder­impfung am 19. Mai 1936 als Impfbezirk die „Private Volksschule der Jüdischen Gemeinde“ angegeben. Dies ist der einzige erhaltene Beleg, dass er diese Schule besuchte.

Impf­bescheinigungen können auch bio­grafische und gesellschafts­politische Informationen enthalten.

Impfscheine aus der NS-Zeit bezeugen auch häufig die Diskriminierung und Verfolgung, denen Jüdinnen*Juden ausgesetzt waren: Als Familie Gumpert aus Breslau (poln. Wrocław) sich mit Blick auf ihre bevor­stehende Emigration am 2. Februar 1939 in ihrer Heimat­stadt „gegen Pocken“ impfen ließ, wurden nicht nur die Zwangs­namen „Israel“ bzw. „Sara“ auf den Bescheinigungen hinzugefügt, sondern die Dokumente erhielten auch den aufge­stempelten Hinweis, dass ihr jüdischer Arzt „Dr. Israel Martin Biberstein“ nur „zur ärztlichen Behandlung aus­schließlich von Juden berechtigt“ sei. Der Stempel ist mit einem Juden­stern versehen.

Die medizinische Versorgung im Ghetto

Eine besondere Rolle in unserem Bestand nehmen Impf­bescheinigungen ein, die im Ghetto Theresien­stadt ausgestellt wurden. Die „Impfkarten“ enthalten neben dem Namen auch die Transport­nummer des oder der dorthin Deportierten.

Impfbescheinigung für Berta Richter: Ghetto Theresienstadt, Vordruck, handschriftlich ausgefüllt, Theresienstadt, 1.2.1944

Die in Wien geborene Berta Richter (1875–1959), die im Januar 1944 mit dem Transport XXI/3 von Troppau (tschech. Opava) nach Theresien­stadt gebracht worden war, wurde im Januar und Februar 1944 gegen „Bauchtyphus“ geimpft; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/167/1, Schenkung von Giselher Technau

Eigentlich lag es durchaus im Interesse des Regimes, dass in Theresienstadt, wie auch in anderen Ghettos und Lagern, Infektions­krankheiten grassierten, an denen viele Gefangene starben.

Das Ghetto Theresien­stadt diente jedoch eine Zeitlang als Vorzeigelager, um die internationale Öffentlich­keit und die besuchenden Delegationen des Roten Kreuzes zu täuschen. In diesem Zusammen­hang wurde hier auch geimpft. Berta Richter überlebte die Haft und starb 1959 im Alter von 85 Jahren.

Zeichnung von Kulissen, die die hinter ihnen verborgenen Leichen nur teilweise verdecken

Mit Kulissen für die internationale Kommission dokumentierte und kommentierte Bedřich Fritta das Ghetto Theresienstadt, 1943/44; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2003/3/160, Dauerleihgabe von Thomas Fritta-Haas, Foto: Jens Ziehe

Heute rufen deutsche und europäische Rabbiner*innen zur Impfung gegen Covid-19 auf.

Covid-19 heute

Und heute? Covid-19 ist auch für das Leben von Juden*Jüdinnen und ihre religiöse Praxis eine „Zumutung“. Während des ersten Shutdowns waren z. B. zeitweilig keine Gottes­dienste mehr möglich. Darüber hinaus werfen die Hygiene­regeln eine Reihe von Fragen auf. Dürfen beispiels­weise Mesusot an den Eingangs­türen berührt bzw. geküsst werden? Heute rufen deutsche und europäische Rabbiner*innen zur Impfung gegen Covid-19 auf. Und auch der Vorsitzende des Zentral­rats der Juden in Deutschland, der Arzt Dr. Josef Schuster, spricht sich für die Impfung aus.

Da das Archiv des Jüdischen Museum Berlin nicht nur Dokumente aus der Vergangenheit, sondern auch zum gegen­wärtigen Leben von Jüdinnen*Juden aufbewahrt, ist es gut möglich, dass wir irgend­wann auch einen Nachweis der Impfung gegen Covid-19 in unserem Bestand haben werden.

Die Mitarbeiter*innen des Archivs, die ihrer eigenen Impfung entgegen­sehen!

Religiöse Fragen während der Corona-Krise

PDF auf zentralratderjuden.de

Zitierempfehlung:

Die Mitarbeiter*innen des JMB-Archivs (2021/22), Von den Kuhpocken bis zu Covid-19. Impf­bescheinigungen aus rund 200 Jahren in unserem Archiv.
URL: www.jmberlin.de/node/7775

Blick hinter die Kulissen: Anekdoten und spannende Funde bei der Arbeit mit unseren Sammlungen (21)

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