Links: Cover eines Tagebuchs, Mitte: Schwarz-Weiß Porträtfoto einer jungen Dame. Sie trägt ein hochgeschlossenes Kleid mit Hut im Stil der 1910er Jahre. Rechts: Cover eines abgegriffenen Tagebuchs mit Ledereinband und dem goldenen Schriftzug „Tage-Buch“.

„Nein,
ich will Dr. O.“

Leonie Meyers Tage­bücher aus den Jahren vor ihrer Ehe­schlie­ßung (1910–1912)

„Tage-Buch“ steht in geschwun­gener Schrift auf dem Ein­band des schmalen Büch­leins. Der ver­goldete Schrift­zug leuchtet noch wie eh und je. An­sons­ten sind die Spuren der Zeit aber un­überseh­bar, denn das Tage­buch ist über 100 Jahre alt und kam viel in der Welt herum, bevor es 2016 als Teil einer um­fangreichen Familien­sammlung in unser Archiv gelangte, um hier für die Zu­kunft bewahrt und der For­schung und inter­essier­ten Öffentlich­keit zugäng­lich ge­macht zu werden.

Der Leder­einband ist ab­gewetzt. Das Schloss, das einst den Inhalt des Tage­buches vor neu­gierigen Augen schützte, ist be­schädigt und er­füllt seinen Zweck längst nicht mehr. Und so er­öffnen sich uns Ein­blicke in das, was dem Tage­buch in den Jahren 1910 bis 1912 an­ver­traut wurde, und damit in das Leben seiner früheren Besitzerin Leonie Meyer (1887–1948).

Leonie Meyer schrieb über viele Jahre hinweg Tage­buch, zwar nicht täglich, aber doch in regel­mäßigen Abständen. Nicht alle Ein­träge sind datiert. Sieben Bände sind insgesamt über­liefert, die 27 Jahre ab­decken und ihren Werde­gang vom Teen­ager bis zur 41-jährigen Frau nach­vollziehen lassen.

Sie verfasste die Tage­bücher nicht zum Zweck ihrer späteren Ver­öffentlichung. Der Inhalt ist privater Natur, aber zugleich ist er von all­gemeinem historischem Inter­esse. Vor allem im fünften Band reflektiert sie in bemerkens­werter Offen­heit über sich und ihre Situa­tion, auch im Ver­gleich zu gleich­altrigen Frauen, es geht um ihre Reisen und viel­fältigen Hobbies, aber auch um ihre Bezie­hung zu verschiedenen Freun­­dinnen. Sie nutzt ihr Tage­buch zur Selbst­verständi­gung über ihre Wünsche und Er­wartungen an einen künftigen Ehe­mann, sie ringt um die Kriterien, die sie bei dieser Lebens­entschei­dung leiten sollen. Es geht um Themen wie das (Ver-)Lieben und Be­gehren, um das Geschlechter­verhältnis, auch im Hin­blick auf Sexua­lität in und vor der Ehe (und unter­schiedliche Standards für Männer und Frauen), die Ab­wägung von Konzepten wie Liebes­heirat versus Vernunft­heirat und/oder ver­mittelte Ehe.

Wie denkt eine junge, un­ver­heiratete jüdische Frau aus gutem Haus Anfang des 20. Jahr­hunderts über diese Fragen? Wie sieht sie ihre Rolle, gerät sie gar in Kon­flikt mit den an sie ge­stellten Er­wartungen seitens ihres Eltern­hauses oder ihres sozialen Um­felds insgesamt, welche Stra­tegien wählt sie, um sich auf diesem Terrain zu bewegen und vielleicht sogar den eigenen Handlungs­spielraum zu er­weitern? Unser Archivar Jörg Waßmer hat sich den fünften Band genauer an­geschaut und die inter­essan­testen Stellen für Sie zusammen­gestellt. Aus Gründen des Persönlich­keits­schutzes haben wir uns ent­schieden, andere Personen, die in dem Tage­buch erwähnt werden, zu anonymisieren, ob­gleich sie alle längst ver­storben sind.

Schwarz-Weiß-Porträtfoto einer jungen Frau. Sie trägt ein hochgeschlossenes Kleid im Stil der 1910er Jahre und eine Hochsteckfrisur und steht vor einem Haus, dessen prächtige Fassadenverzierung im Hintergrund zu sehen ist.

Leonie Meyer zu Hause in Han­nover, ca. 1905–1910; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Wir illustrieren die Tage­buch­ein­träge mit Foto­grafien aus Leonie Meyers Foto­album, die etwa zeit­gleich auf­genommen wurden. Nicht alle Fotos sind be­schriftet, so­dass auch nicht alle ab­ge­bildeten Personen iden­tifiziert werden konnten; dennoch erlauben sie Ein­blicke in die Lebens­wirklichkeit der jungen Han­noveranerin. Darüber hinaus offen­bart sich in ihnen auch ein Bild von Frauen und Männern, das meist, aber nicht immer den gesell­schaftlichen Rollen­erwartungen entspricht.

1887 geboren, wächst Leonie Meyer mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Edith (1888–1966) in einem jüdischen, groß­bürgerlichen Eltern­haus auf. Ihre Eltern sind der wohl­habende Privat­bankier und Kommerzien­rat Emil Louis Meyer (1853–1926) und Helene Meyer, geb. Levy (1859–1942). Die Familie ist nicht sonder­lich religiös, 1903 notiert die 16-Jährige in ihrem Tage­buch, dass sie es bedauere, keine „Liebe zur Religion“ ver­mittelt bekommen zu haben, weder in der Schule noch im Eltern­haus. Bei ihr zu Hause werde die Religion „leider […] nicht gepflegt“. Die Meyers gehen nur an den hohen jüdischen Feier­tagen in die Synagoge. Auch Weih­nachten wird – inklusive Be­scherung – gefeiert. Man ist patriotisch ein­gestellt und verehrt den Deutschen Kaiser. Dazu passt, dass die zionis­tische Be­wegung, die einen eigenen jüdischen National­staat anstrebt, bei Leonies Vater auf wenig Gegen­liebe stößt. Dass Leonies zu­künftiger Ehe­mann Jude sein muss, steht hin­gegen sowohl für die Eltern als auch für Leonie selbst außer Frage. 
 

Stark verwittertes Schwarz-Weiß-Foto: Es zeigt ein Paar mittleren Alters, das an einer zum Mittagskaffee gedeckten Tafel sitzt. Beide blicken Richtung Kamera.

Leonies Eltern Emil Louis Meyer und Helene Meyer, geb. Levy, 1907; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Neun Jahre lang besucht Leonie Meyer die Schule in ihrer Heimat­stadt. Kurz vor der Ver­ab­schie­dung aus dem Lyzeum ver­traut sie ihrem Tage­buch an:

„Freun­dinnen habe ich nicht, auch bin ich sehr un­beliebt, teils weil ich immer so schreck­lich offen bin und so bos­hafte Be­merkungen mache, teils finden sie mich protzig. Alle Mäd­chen in der Klasse ge­hören näm­lich dem ein­fachen Bürger­stande an, und wenn ich ganz ein­fach erzähle, wie dies und jenes bei uns zu­geht, so halten sie das gleich für über­triebene Protzerei“.

Nach der Be­endi­gung ihrer Schul­zeit besucht sie 1904/05 das Mädchen­pensionat von Fräu­lein Hermine Wolff in Wies­baden. Dort lernt sie höhere (jüdische) Töchter aus dem In- und Aus­land kennen, mit einigen Mit­schüle­rinnen ent­stehen enge Freund­schaften, die sie auch später weiter pflegt: Denn seit Januar 1905 wohnt sie wieder bei ihren Eltern in Han­nover und geht ihren viel­fältigen Inter­essen nach. Der­weil besteht die von ver­schiedenen Seiten an sie und ihre Freun­dinnen gerichtete Er­wartung vor allem darin, möglichst zügig eine ‚gute Partie‘ zu machen, also zu heiraten.

Schwarz-Weiß-Foto einer Gruppe von ca. 40 jungen Frauen im Freien, sie befinden sich neben einem Gebäude, das am rechten Bildrand leicht angeschnitten sichtbar ist. Fast alle tragen Hochsteckfrisuren, weiße Blusen und dunkle Röcke mit weißen Schürzen.

Die Mädchen der Erziehungs- und Bildungs­anstalt von Hermine Wolff, Wies­baden, Mai 1904; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Am 2. Mai 1910 feiert Leonie Meyer ihren 23. Ge­burts­tag. Passender­weise be­kommt sie von einer Freundin ein neues Tage­buch geschenkt, um das vor­herige, voll­ge­schriebene zu er­setzen. Ihr erster Ein­trag lautet: 
  
 

Florales Muster aus dem Buchspiegel eines Tagebuchs von Leonie Meyer
Tagebucheintrag vom 7. Juli 1910

„Ich dachte, ich könnte dieses Buch mit etwas anderem beginnen, als mit dem ewigen Ge­quängel ums Heiraten, das mich ganz krank macht. Warum die Eltern besonders Papa wohl solche Eile haben? Gewiß, sie meinen es gut u. denken, ich würde ihnen Vor­würfe machen, wenn sie in dieser Be­zie­hung nicht für mich sorgten – aber das ist doch Un­sinn, denn ich habe es durch­aus nicht so eilig, so lange man mich un­gestört meinen Be­schäftigungen nach­gehen läßt. Denn der Ehr­geiz mich eher als die Freun­dinnen zu ver­heiraten, oder ein Ge­fühl des Neides oder der Be­schämung weil ich bis jetzt ‚über­geblieben‘ bin, liegt mir so fern. Ich glaube, das ist ein Gefühl, das nur die Mäd­chen kennen, die keine Chancen haben, kein Ver­mögen oder sehr häß­liches Äußere.“

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Mehr und mehr ihrer Freun­dinnen ver­loben sich oder heiraten. Bei ihrer Geburtstags­feier sind „lauter Bräute ver­sammelt“, schreibt sie. Die Ehe ihrer Freundin Lucie J., die mittler­weile ein Kind hat, hält Leonie für eine „wirklich wunder­volle Ehe“. Erleichtert stellt sie fest, dass ihre Freund­schaft trotz Heirat und Baby keinen Schaden ge­nommen hat.

In ihrer freien Zeit, mit der sie üppig gesegnet ist, reitet Leonie viel, häufig zusammen mit „zwei Officiers­bräuten“. Als sie eines Tages von einem Reit­ausflug nach Hause kommt, wird sie darüber informiert, dass sie gleich einem Heirats­kandidaten vor­gestellt werde:

Tagebucheintrag vom 7. Juli 1910

„Eines Nach­mittags, als ich [...] heimkam, hieß es, Papa käme gleich mit einem jungen Herren, der wegen eines Vor­trages auf der Durch­reise hier sei. Ich wußte gleich, daß es der bewußte Herr M. aus Frkft. [Frank­furt] war, über den ich einmal eine Aus­kunft – sein Liebes­leben über­steigt wohl die in seinen Kreisen üblichen Grenzen – gefunden u. auf den ich sehr neu­gierig war. Denn allem An­schein nach Stellung, Ver­mögen, Familie, ist er etwas Excep­tio­nelles. Marie erzählte mir zwar, er sei sehr häß­lich, aber ab­gesehn von der Nase war es nicht so schlimm, wie ich erwartet u. er war ein sehr munterer Mensch, soviel ich in fünf Minuten be­urteilen konnte. Vielleicht blendeten mich die locken­den anderen Sachen, kurz, ich wäre eventuell nicht ab­geneigt gewesen, ihn mir mal ordent­lich an­zusehen. – Aber er ver­schwand im Dunkel der Nacht. – Niemand sprach mehr von ihm. Papa den ich endlich inter­pellierte [be­fragte], drückte sich unklar aus, ihm hätten die vielen Sports­interessen keine Garantie für eine ruhige Zu­kunft gegeben – vielleicht hat er auch nicht wollen oder den wahren Grund des han­noverschen Besuches nicht erfahren – denn man hat ihm zu Hause kein Wort von dem Zweck gesagt – er wäre darin so difficil. Ich finde das sehr be­greiflich, denn sonst hätte ich auch nicht ver­standen, wieso ein solcher Jüng­ling, dem es doch gewiß an Passendem nicht mangelt, sich zu einer solchen Braut­schau hergibt.“

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Kaum ist die Be­gegnung mit Herrn M. aus Frank­furt über­standen, reist Leonie Meyer mit ihren Eltern zu einem Kurz­besuch nach Berlin:

Tagebucheintrag vom 7. Juli 1910

„Nun kommt’s ganz arg. Papa hatte mich vorher gefragt, ob ich wohl einen jungen Rechts­anwalt mit Praxis, die ihm schon jährlich 20-25.000 M[ark] ein­brächte, kennen lernen wolle. Er sei sehr nett u. ansehn­lich. Ich sagte erst nein – diese Art Visiten quälen mich so. Papa ver­sprach die Sache aber auf sehr discrete Art zu managen, kein Wort wurde mehr darüber gewechselt.
[...] Also Abend, wir sitzen eben bei Tisch, kommt auf sehr selbst­verständliche Weise ein Herr an unsern Tisch, begrüßt Papa wie einen alten Bekannten, wird vor­gestellt u. ist bald ein sehr leb­haftes Gespräch im Gange. Ich hatte zwar auf den ersten Blick das Gefühl, daß ich ihn nicht heiraten möchte, er ist so das entgegen­gesetzte Genre, wie ich gern habe, zwar sehr elegant, ansehn­lich, fast zu höf­lich mit seinem ‚Gnädigste‘ und auf allen Gebieten be­schlagen – alles schien er (seinen Reden nach!) zu können. Redete man vom Reiten, ritt er, – vom Alter­tümer sammeln, sammelte er auch, etc. Jeden­falls war das Gespräch sehr animiert, ich war sehr leb­haft u. schien ihm überraschend gut zu gefallen, er war wirk­lich entzückt davon, daß bei dieser ver­meint­lichen Vernunfts­heirat nun vielleicht eine so liebe, lebhafte Frau herauskäme. Aber es kam anders als er dachte. Schon beim Abend­brot wußte ich geschickt jegliche weitere Ver­abredung mit ihm zu ver­hindern. Beim Ab­schied küßte er mir sehr intensiv die Hand, die ganz naß wurde und die ich mir ge­ekelt heim­lich am Kleid ab­wischte. Kein Wort redete ich abends mehr über ihn. Am nächsten Morgen beim Kaffeé ver­schwand Mama plötz­lich diskret. Darauf Papa: ‚Nun wie hat Dir der Herr ge­fallen, möchtest Du ihn weiter kennen lernen?‘ Er war mit Mama fest davon über­zeugt, da sich ja wirk­lich eigent­lich nichts gegen ihn ein­wenden ließ. Wie ein Blitz aus heitrem Himmel kam die Ant­wort: ‚Nein‘. ‚Warum denn nicht?‘ ‚Er ist nicht mein Genre.‘ ‚Ach was, sag’ einen ver­nünftigen Grund!‘ ‚Ich weiß keinen, nur ich mag ihn nicht!‘ Und davon ließ ich mich auch nicht ab­bringen. Papa war außer sich, vielleicht wäre eine andere mürbe geworden, denn eigent­liche Gründe hatte ich ja nicht.“

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Insgeheim schwärmt die 23-Jährige für den 13 Jahre älteren Fritz Oliven (1874–1956), einen Rechts­anwalt aus Berlin, der seinen Beruf aller­dings weit­gehend auf­ge­geben hat, stattdessen vor allem als Schrift­steller tätig ist und sich unter dem Pseudo­nym „Rideamus“ (lat. für „Lasst uns lachen!“) einen Namen als Ver­fasser humoristischer Bücher ge­macht hat.

„Ich dachte im Stillen, allerdings immer an Dr. Oliven, dessen Bild mir doch nicht aus dem Sinn geht [...].“

Kennengelernt hatte Leonie ihn ein Jahr zuvor während ihres Sommerurlaubs im westböhmischen Kurort Marienbad (heute Mariánské Lázně, Tschechien). Blicken wir zurück in den früheren Tagebuchband, in den Leonie die Umstände des Kennenlernens schildert:

Auf dem Cover ist ein tanzendes Paar zu sehen, ihr Rücken ist seiner Brust zugewandt, sie schauen einander über ihre rechte Schulter an. Darunter sieht man die Signatur von Rolf Niczky sowie in Schreibschrift „Berliner Bälle von Rideamus“.

Buchcover Berliner Bälle von Rideamus (Fritz Oliven), Grafik: Rolf Niczky (1881–1950), Schlesische Verlags­anstalt, Berlin, 1916; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Peter-Hannes Lehmann

Tagebucheintrag, August 1909

„Frau Rat F., die auch Renas Partie gemacht hat, [...] ver­mittelte uns allerlei nette Bekannt­schaften. Besonders Dr. Fritz Oliven […]. In Berlin hatte ich schon ein­mal über seine berüchtigte Frech­heit, die ihn für junge Mädchen un­möglich mache, gehört – aller­dings auch das Gegen­teil, und daß es auf die jungen Mäd­chen sehr ankomme – und war nun erstaunt, in ihm das feinste Kerl­chen zu finden, dem ich in meinem Leben über­haupt begegnet bin. Wir unter­hielten uns glänzend – nie habe ich jemand im Gespräch stets so in Grenzen bleibend gesehn – allerbeste Kinder­stube. – Direkt das Gegen­teil vom Kätz­chen [ein Bekannter namens Katz] – alles erotische im Gespräch aus­schließend, niemals eine An­spielung, eine halbe Zwei­deutigkeit. – Ich erwähnte auch in den ersten Tagen seine Bücher nicht – er war zu bescheiden, es zu tun. Er war auch nicht wie Eugen oder Dr. P., in aller Harm­losigkeit ein derbes Wort ge­brauchend. Er war Rechts­anwalt, hatte dies aber seiner Dich­tungen wegen ganz ver­nachlässigt – und nun kam schon manchmal der Katzen­jammer – er wußte nichts zu dichten oder es gelang ihm nichts u. da er das Dichten im Haupt­beruf trieb, war das bös! Über­haupt hielt ich sein Talent für nichts phänomenales, eine nette Fertig­keit zu reimen, Beobachtungs­gabe, Pointen – aber doch später eines ernsten Mannes als Haupt­beruf nicht würdig. – Ich unter­hielt mich gern und oft mit ihm – und er wollte mich heiraten“.

Obgleich auch Leonie Sympathie emp­fand, gab sie Fritz schluss­endlich einen Korb:

„[…] am letzten Tag gingen Edith, er und ich in den Wald – da wurde es mir klar, daß ich wieder die schwere Auf­gabe hatte, jemand eine Ent­täuschung zu bereiten – aber ich bin für reinen Tisch – nur niemand zappeln lassen. Den ganzen Weg hatte ich schon vor­bereitend gesprochen, wie schwer es für ein anständig denkendes Mäd­chen sei, Körbe zu erteilen – denn er sollte nicht denken, daß ich leicht­sinnig mit ihm gespielt. Am Schluß, er wollte reisen, sagte er: ‚Also Sie bleiben bis zum 15.?‘ ‚Ja.‘ ‚Wenn ich also am 12. komme, treffe ich Sie noch.‘ – ‚Ich glaube nicht.‘ – Er neigte das Haupt u. hatte ver­standen. Ganz kurz Adieu, ich vergaß vor Bestürzung glück­liche Reise zu wünschen u. er ging. Die Ant­wort war ja ebenso unlogisch wie dumm – aber sie sagte, was ich wollte.“

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Soweit die Rückblende.

Nun können wir dem chrono­logisch korrekten Erzähl­strang weiter folgen und befinden uns wieder im Jahr 1910: Auch in diesem Jahr ver­bringen die Meyers ihren Sommer­urlaub wieder in Marien­bad.

„Junge Herren gab es diesmal in Marien­bad gar nicht, aber es war eine reizende Zeit, die wir mit Alice P. u. Bertha G. (verlobt mit Dr. M.) ver­lebten.“

Leonie und ihre Schwester Edith ver­treiben sich die Zeit mit Alice und Bertha beim gemeinsamen Tennis­spiel. Von beiden hat Leonie eine hohe Meinung: Bertha sei „ein kapriciöses kleines Frau­chen, künstlerisch ver­anlagt, ein bischen prätenziös, aber voll Eigen­art.“ Auch wenn ihr Ver­lobter nicht sonder­lich treu sei, ver­stehe sie es, ihn „mit tausend kleinen Evas­listen an sich zu fesseln“. Und Alice sei „ein Pracht­mensch, der ich den besten aller Männer wünsche“.

„Aber ich habe Angst, daß man Alice über­haupt mürbe machen wird, mit den vielen Freiern, die man ihr vor­führt, sie grade wie mich nicht ‚zwingt‘ aber so ‚ein­dusselt‘ bis der eigne Wille ganz schwach wird u. man resigniert.“

Verächtlich urteilt Leonie Meyer über andere „Mädels“:

„ich mag diese albernen Gänse nicht mit nur Flirt u. Toiletten, sondern solche Mädchen, in denen man das künftige Weib verspürt, nicht bloß Luxuswesen, sondern solche, die auch wenn sie keinen Beruf haben, an den Gedanken der Zeit teilnehmen, sich ihrer Persönlichkeit bewußt sind und ein weibliches Verstehen für ihre Umgebung u. deren Schwächen haben.“

Drei Damen in weißen Kleidern, eine mit großem Hut, stehen vor einem Eingangstor. Vor ihnen stehen zwei barfüßige Jungs mit Tennisbällen in den Händen.

Leonie Meyer mit einem Tennis­schläger, rechts ihre Schwester Edith, links ihre Urlaubs­bekannt­schaft Bertha G. Davor stehen zwei Ball­jungen mit Tennis­bällen, Marien­bad, 1910; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

In Marien­bad macht Leonie Meyer in diesem Jahr die Bekannt­schaft eines jungen Mannes aus Düssel­dorf, Hubert P., dem Sohn einer Malerin. Leonie fühlt sich zu ihm hin­gezogen, fürchtet aber auch, dass er später wo­möglich „blasiert“, d.h. arrogant, ja ein richtiger „Lebe­mann“ werden könne. Einen Vor­geschmack bekommt sie bei einem abend­lichen Tête-à-Tête: 

Tagebucheintrag, Juli 1910

„Eines abends waren alle im Theater, da kam er, [...] saß da im großen Lehn­stuhl, redete aller­lei Blech über die Ehe u. Frauen, die von Natur aus dazu ver­anlagt seien, treu zu sein! Während es bei einem Mann un­möglich sei!!! etc., und dann dazwischen wieder sagte er, ‚liebes Kleines‘. Und man hätte wirklich Lust be­kommen, ihn zu küssen, wenn ich nicht immer die Angst vor der triumphieren­den Miene nach­her hätte.“

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Ein junger Mann mit Schnurrbart im Mantel sitzt an einem Tisch und schaut mit herausforderndem Blick in die Kamera. Vor ihm steht ein Tisch mit Tischdecke, hinter ihm ist ein hoher Zaun aus Hasendraht zu sehen.

Ein Mann, ver­mutlich Hubert P., sitzt lässig auf einer Bank, Marien­bad, 1910; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Von Marien­bad aus reisen die Meyers weiter nach Ham­burg, wo sie zur Hoch­zeit der Cousine Alice K. ein­geladen sind. Von ihrem Bräuti­gam hält Leonie über­haupt nichts:

Tagebucheintrag vom 20. bis 23. August 1910

„Er ist ein Mords­kaffer, der den Mund nur zum Essen auf­tut, aber dann auch reich­lich weit. Er hat sich da fein ins ‚Fett­näpfchen‘ gesetzt, kostet nun das Wohl­leben mit behag­licher Breite, läßt sich von Alice ver­wöhnen, die besten Stücke auf den Teller tun u. gibt sich im Übrigen nicht die geringste Mühe mit Schwieger­eltern oder neuen V­erwandten, er be­schränkt seine Höflich­keiten auf ein Mini­mum, da Alice ja doch zu ihm hält und er viel zu bequem dazu ist. Außer­dem ist er aus ganz klein­bürgerlichen Ver­hältnissen. Alice leckt ihn immer­zu ab“.

Auch sonst amüsiert sich Leonie nicht sonderlich auf der Hochzeitsfeier:

„Bei der Hochzeit hatte ich einen 50j[ährigen] Junggesellen zu Tisch, der Mama schon die Cour gemacht und als sehr flotter Lebemann galt, mir behagte er wenig, er war mehr ein Genre für Verheiratete.“

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Zurück in Han­nover trifft sich Leonie mit ihren beiden lang­jährigen Freun­dinnen Lucie H. und Erna S.. Beide heiraten in Kürze.

Tagebucheintrag, August 1910

„Erna wird es nicht so ganz leicht, manches hatte sie sich in ihren Mädchen­träumen anders gedacht und manches in der Ehe schreckt sie noch. – Wenn man nicht so feige wäre und eine zurück­gezogene Ver­lobung in unsern Kreisen als so etwas gräß­liches an­ge­sehen würde – ich weiß nicht was geschehen wäre –. Und manches physische an Ernst schreckt sie, sie ist sehr sensible und nur wenige Männer haben dafür ein Ver­ständnis. Wohl werden sie einem den ersten Schritt er­leichtern – aber für so gewisse Stimmungen sind sie meist zu robust ver­anlagt. Und für ein bewußt in die Ehe gehendes Mäd­chen sind doch manche Gedanken ganz peinigend und das Beste ist, man denkt gar nicht. Vielleicht, wenn man sehr ver­liebt ist, denkt man so etwas nicht, aber wenn man eine Verstandes­ehe schließt, die nur durch die Ge­wöhnung (oder Ge­wohn­heit) später zur Liebes­ehe wird mit einem Mann, zu dem ihre Sinne sie nur hinziehn, weil sie über­haupt aus­gehungert ist, nicht weil er grade – sie reizt, so gibt es doch bange Momente – was wird daraus. Aber es wird wohl die Gewöh­nung kommen, ihre Wünsche werden ein­schlafen, die Mädchen­träume – und Ideale ver­gessen werden und eine ruhige Zufrieden­heit ihr Leben aus­füllen. Vielleicht wird es ihr auch in der großen Stadt ohne Familie u. Bekannte erst etwas einsam werden u. sie wird erst grübeln und viel weinen.“

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Im Sep­tember 1910 bekommt Leonie erst Besuch von ihrer Freundin Lene H. („sehr glück­lich, über­mütig, aber mit einem kleinen Stich ins Koketten­hafte“) und dann von Kurt und Rena, die sich ihrer Mei­nung nach gerade­zu skandalös ver­halten:

„Sie lecken sich bis zur Be­wußtlosig­keit u. als sie bei Tisch saßen, so er­zählt Marie, die servierte, konnte sie ihnen gar nicht reichen, weil sie zu eng bei­sammen saßen!“

Eine Reiterin in Reitkleidung sitzt im Damensitz auf ihrem Pferd, das im Begriff ist, über ein Hindernis von geringer Höhe zu springen. Die Reiterin presst ihre Lippen zusammen und wirkt dadurch etwas angespannt.

Leonie Meyer beim Reiten mit ihrem Pferd Lady, 1910; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Im Oktober 1910 reist Leonie Meyer dann nach Neu­stadt in Ober­schlesien, um ihre Freundin Alice P. zu be­suchen, mit der sie im Sommer­urlaub eine solch gute Zeit ver­bracht hatte. An Jom Kippur gehen die beiden Freun­dinnen ge­meinsam in die Syna­goge, denn:

„Man braucht einen Tag in dem Hasten des Jahres, um mit sich selbst zu rate zu gehen!“

Am Abend vor ihrer Ab­reise kommt Alice zu Leonie ins Zimmer und schüttet ihr Herz aus:  
 

Tagebucheintrag vom 12. November 1910

„[Sie] saß auf meinem Bett und wollte etwas sagen u. wagte es nicht. Alice­chen leidet an dem­selben wie ich – an der Freier­suche der Eltern. ‚Wir haben ihr schon so viele dies Jahr vor­gestellt, ich weiß gar nicht, was sie immer da­gegen ein­zuwenden hat, nun soll sie aber mal end­lich Schluß machen!‘, sagte ganz un­geduldig Frau P. zu mir [...]. Sie denkt darin eben­so wie meine Eltern, daß diese Art der Ehe­schließung die Einzig Mög­liche u. ganz Natür­liche ist. Daß ein mo­dernes Mäd­chen anders emp­findet, ist ihnen un­möglich zu ver­stehn. Und doch denkt Alice­chen wie ich – wir hoffen einen Menschen, den wir lieben, eben nicht auf jene Weise zu er­langen, grade wie ich bei Dr. O[liven] Angst hatte, daß Papa sich da­zwischen steckt, hat sie es bei dem Manne, den sie gern hat – sie lebt in Hoffen u. Harren wie ich u. wagt doch den Eltern aus Angst vor deren Takt­losig­keiten nichts zu sagen. Sie ging im Zimmer umher u. kämpfte mit sich, ob sie’s mir an­vertrauen sollte. Ich drehte das Licht ganz aus, sie legte sich neben mich u. gestand, daß es Carl sei. Ich kam ihr ent­gegen. Sie mag ihn seit Februar gern u. wäre ihre Mutter damals nicht für die plötz­liche Ab­reise gewesen, wäre es auch zu einem klären­den Wort ge­kommen. So hat sie lange nichts von ihm gehört. Sie fragte mich ein wenig im Sommer aus – das war alles. Dann fragte sie mich jetzt aus. Ich sagte: ‚Ich halte ihn für einen an­ständigen Charakter.‘ ‚Erzähl mir ein bischen, was er sonst für Eigen­schaft hat.‘ ‚Nun, das ist zu subjektiv, was ich nett finde, magst Du nicht u. um­gedreht. [...].‘ ‚Bummelt er viel?‘ ‚Wie alle, nur hat er den An­stand, nie etwas davon merken zu lassen‘ – das sind übrigens nicht die Schlechtes­ten, die sich aus­getobt.“

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Die folgenden Seiten des Tage­buchs fielen wohl später Leonie Meyers Selbst­zensur zum Opfer, jeden­falls wurden sie heraus­gerissen. Aus den wenigen frag­men­tarischen Zeilen, die er­halten sind, wird deut­lich, dass Leonies Herz weiter für Fritz Oliven schlägt: „Nein, ich will Dr. O[liven]!“

Foto des handschriftlichen Tagebucheintrags „Nein, ich will Dr. O!“

„Nein, ich will Dr. O.!“, Aus­schnitt aus einem Tage­buch­eintrag vom November 1910; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/145/636, Schenkung von Familie Oliven

Während eines Aufent­halts in Berlin ergreift sie selbst die Initiative und kontaktiert seine Mutter Louise Oliven:

Tagebucheintrag vom 12. November 1910

„Ich meldete mich bei Frau Dr., ob­gleich ich mich auf­dringlich fand. Sie bestellte mich Mon­tag in Schillings Konditorei [am Kurfürsten­damm]. Wir redeten von Gleich­gültigem. Ich saß wie auf Kohlen. Sie lud mich zu Mitt­woch ins Theater ein. Ich kann gar nicht sagen, wie un­sagbar auf­dringlich ich mich fand und wie pein­lich es mir war.“

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Weitere Seiten hierzu fehlen; erst am 15. November 1910 geht es mit einem Tage­buch­eintrag weiter, der darüber auf­klärt, dass Leonie wegen eines Sehnen­risses vor­erst das Bett hüten muss.

Im neuen Jahr trifft Leonie ihre ver­heiratete Freundin Lucie H., wieder. Von ihr erfährt sie, wie un­glücklich und gewalt­förmig sich die Ehe ihrer gemein­samen Freundin Erna gestaltet: 

Tagebucheintrag vom 2. Januar 1911

„Lucie erzählte mir aus Ernas Ehe – Erna hat in Ham­burg keinen zum Aus­sprechen, obgleich ihr Herz über­voll ist. Daß sie es Lucie an­vertraut und nicht mir, ver­stehe ich voll­kommen, denn unter jungen Frauen redet sich viel leichter über so etwas. Erna er­wartet ein Kind – sie war erst sehr elend u. sehr ein­sam – u. mußte doch Ernst stets zu Willen sein. Sie ist ihm nicht böse, sie sagt ‚er ist Mann‘ aber inner­lich tot­unglück­lich dabei. Schon am ersten Abend ihrer Hochzeits­reise nahm er sie so heftig, daß sie vor Schmerzen laut schrie. Und vor jedem neuen Abend zitterte. Und er war ganz Mann u. hatte kein Ver­ständnis für ihre see­lischen Lei­den. Wenn es vorüber, schlief er fest und be­friedigt, während sie klar u. wach die Nacht über lag u. grübelte. Und nüchtern u. freud­los dabei war, weil sie sich ohne Rück­sicht auf ihre Stimmung geben mußte, nur aus Gattinnen Pflicht. Und bis jetzt ist es ihr noch nichts als eine lästige ‚Pflicht‘, die ihr mehr Ekel erweckt – und als sie Ernst neu­lich fragte: ‚Nun wenn Du jetzt noch davor ständest, nachdem Du weißt, würdest Du wieder heiraten?‘ Worauf ein promptes ‚Nein‘ ertönte. So qual­voll ist ihr das Ehe­leben.“

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Fotoalbumseite (Ausschnitt) mit drei Schwarz-Weiß-Fotografien einer stehenden jungen Frau. Ihre Posen variieren leicht, ebenso ihre Accessoires (mit und ohne Blumen in der Hand, mit und ohne Stola).

Dreiteilige Foto­serie von Lucie H. aus Leonie Meyers Foto­album, 1907; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Erneut folgt eine Reise nach Berlin, mit Eltern und Schwester. Auf dem Pro­gramm stehen gleich am ersten Abend ein Besuch der Operette Die schöne Risette und an­schließend ein Dinner im Kaiser­hof am Wilhelm­platz. Der eigentliche Zweck der Reise gilt aber etwas anderem. 

Tagebucheintrag vom 11. bis 16. Januar 1911

„Dies­mal wußte ich, daß es Ernst wurde. Papa hat dies­mal eine be­sondere Nummer in petto u. mein Inter­esse dafür zu er­wecken ver­standen. Eigent­lich wollte er schon vor Weih­nachten vor­führen, aber ich streikte. Am ersten Abend ‚schöne Risette‘. Ich dachte, er wäre im Theater oder nach­her beim Essen im Kaiser­hof. Ich zitterte, aber er kam nicht. Erst ganz nach­her, beim Kaffeé in der Halle stand irgend­wann aus einem Freundes­kreise ein Herr auf, grüßte Papa, sprach mit ihm zwei Minuten über Ge­schäfte u. wagte mich nur ganz flüchtig schief von der Seite an­zusehn, und sprach mit mir nur direkt kaum ein Wort. Ihm war die Situa­tion pein­lich. Mir auch. Zwei Tage später nahm er mit uns Thee, sprach aber wieder kaum direkt mit mir. Erst am letzten Abend bei Hiller, wo auch Edith dabei war, wurden wir leb­hafter. Aber Edith schien ihm besser zu ge­fallen. Sie war auch un­befangener u. darum leb­hafter und natür­licher. Ich kann nicht sagen, daß er mir miß­fällt, aber ich glaube seine geistigen Inter­essen sind nicht groß. – Ich habe Angst vor der ge­planten Begeg­nung in Schierke. Papa ist so in ihn ver­liebt, ich bin es auch müde, ‚nein‘ zu sagen, selbst Mama fängt an, Reden zu schwingen, wenn andere sich ver­loben.“

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Kaum zurück in Han­nover kommt Leonies Freundin Alice P. zu Besuch. Sie ist unter­dessen mit Karl ver­lobt, der aus Han­nover stammt, ein Ver­wandter Leonies ist und soeben sein Examen zum Gerichts­assessor be­standen hat. Alice weilt in Han­nover, um in seine Familie ein­geführt zu werden. Leonie beobachtet das frisch­gebackene Paar und urteilt:

Tagebucheintrag vom 5. Februar 1911

„Sie waren ein sehr ver­nünftiges Braut­paar – fast ein wenig zu kühl. Keine Liebes­worte, keiner­lei Geküsse. Sie taut vielleicht als Frau auf oder schon, wenn sie in Neu­stadt ist – sie sind sich noch so fremd u. Alice ist keine Natur, die gleich alle ihre Ge­danken u. Ge­fühle zum besten gibt – außerdem reich­lich kritisch u. über­legt. Sie denkt sich das Zusammen­leben mit Karl, der so viele Intere­ssen hat, schön. [...] Er wird gut zu ihr sein, aber ob sie glück­lich wird? Eine Natur die im Liebes­rausch alles hin­nimmt, ist sie nicht. Ich hoffe, sie wird hier nicht zu ein­sam sein.“

Karl verhalte sich

„ein bischen schüchtern u. benommen ihr gegen­über, seine Energie war futsch, ganz ängst­lich tat er ihren Willen u. behandelte sie als Mimose. Er hätte vielleicht gern mehr Zärt­lich­keit, aber er hält das für die Tugend eines reinen jungen Mäd­chens, vor denen er – (er ist ein anständiger Mensch -) hohen Respekt hat und da er nur das Liebes­gebahren der ‚anderen‘ kennen­gelernt hat, glaubt er, bei einer Haus­tochter gehört solche zurück­haltende Keusch­heit dazu u. ver­sucht sich ein­zureden, daß es etwas sehr achtens­wertes an Alice ist u. läßt sie (während der Ver­lobungs­zeit jeden­falls!) gewähren. Im Gegen­teil, er freut sich auf ihre ‚Er­weckung!‘“

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Während nun auch Leonies Freundin Alice verlobt ist, suchen Leonies Eltern weiter­hin einen Mann für sie. Schon An­fang März 1911 verreist die Familie in dieser Sache wieder, dies­mal nach Wies­baden. 

Tagebucheintrag vom 2. März 1911

„Morgen geht es nach Wies­baden. Trübes Wetter u. es ver­spricht, trost­los zu werden. Wäre das Wetter zu einer Reise ver­lockend, dann wäre nicht alles gar so nackend und traurig, sondern es wäre eine Erholungs­reise, bei der die Be­geg­nung einen zu­fälligen An­strich be­käme. – So ist es eine höf­liche Form, man merkt die Ab­sicht u. man wird ver­stimmt. – Aber ich will mir Mühe geben, ihn nett zu finden – es hat ja doch keinen Zweck, sich länger zu sträuben u. in Phantasien zu leben – ganz ruhig, willen­los, lasse ich mich mit­nehmen – ich wußte, daß es so kommen würde. Ich habe die Be­griffe, Liebe u. Seelen­harmonie, geistige Gemein­schaft aus der Vor­stellung von meiner Ehe ge­strichen u. mir vor­genommen, glück­lich zu werden ohne dies – ich habe den Willen, u. ich glaube das Leben wird mich nicht unter­kriegen. – Ich glaube, daß ich stark genug sein werde, mich allein mit allem ab­zufinden, auch wenn mein Mann an meinem Seelen­leben keinen Teil hat.“

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Wie sich der Auf­enthalt in Wies­baden und die Be­gegnung mit dem ihr bis dahin un­bekannten Mann ge­staltete, vertraut Leonie ihrem Tage­buch fünf Tage später an.

Tagebucheintrag vom 7. März 1911

„Am Sonn­abend Morgen, als Mama u. ich ausgehn wollten, kam Herr M. über den Corridor u. schloß sich uns an. Nach­mittags gingen wir zusammen zur Dieten­mühle und abends aßen wir im Kur­haus, am Sonn­tag gingen wir zwei zusammen im Wald spazieren, ich erzählte ihm von meinen Freun­dinnen – nach­mittags waren wir in Biebrich, dann in der Blum’­schen Condi­torei, wo er seine Vor­liebe für Süßig­keiten be­zeugte, vorm Abend­brot kam er eine Minute in unser Zimmer, aber Mama saß da u. schrieb einen Brief, dann nach dem Abend­brot sagten wir ‚Adieu‘ ohne irgend­etwas – so daß er jeden­falls ebenso im Zweifel ist, wie ich, was das gibt. Hätte ich mich ehr­lich mit ihm aus­sprechen können, so hätte ich etwa folgendes gesagt: Sie haben wohl ge­funden, daß ich ein Mädel bin, mit dem sich leben läßt und ich denke das Gleiche von Ihnen. Sie haben mir ge­fallen – aber ich empfinde ebenso­wenig heiße Liebe für Sie, wie Sie für mich. Ich bin eine zu kritische Natur, um Sie zu lieben. – Sie sind ein gut­mütiger Mensch, auch mit Geld nicht klein­lich. Aber ein bischen zu viel Börsianer – in Manieren u. Rede - u. vor allem reich­lich materiell denkend. Meine Seele wird ein bischen hungern bei Ihnen, an meinem Geistes­leben werden Sie wohl keinen An­teil nehmen. [...] Herr M. u. ich unter­hielten uns so un­persön­lich, wie ich mich nie mit einem jungen Herrn, mit dem ich viel allein war, unter­halten habe. Wir sind uns so fremd wie am ersten Tag, trotz­dem er jetzt weiß, daß ich sehr intelligent u. prak­tisch bin u. ich, daß er sehr gut­mütig, kinder­lieb, ein bischen Potten­kieker [neu­gieriger Mann] ist. Seine schlechten Manieren kann man ihm ja ab­gewöhnen – ein bischen sehr dick ist er auch. Ob es über­haupt was gibt? U. was er wohl denkt? Ich glaube eben­so kühl wie ich.“

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Links im Bild ist ein Mann im Anzug mit Golfschläger zu sehen, in der Mitte eine Frau in weißem Kleid, die sich anschickt, einen Golfball zu schlagen.

Leonie Meyer mit einem nicht identi­fizierten Mann beim Golf­spielen, ca. 1911; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/427/0, Schenkung von Familie Oliven

Zwei Wochen später ist Leonie mit ihrer Familie endlich wieder in Berlin. Man be­sucht zusammen den Kammer­spiel­ball und Leonie amüsiert sich – wider Erwarten: 

Tagebucheintrag vom 20. März 1911

„Hinter mir stand ein bild­hübscher Blonder, ich schaute ihn ein bischen an, dann ver­legen wieder weg – so recht an­locken mit Blicken mag u. kann ich nicht. Er forderte mich zum Tanzen auf, dann kam die Vor­stellung zu der er mir sorg­sam einen Stuhl holte. Nach­her setzten wir uns oben, wo es ganz fein wie in einem Privat­haus war u. tranken Sekt, ein Freund mit seinem Münchner Kindl, die auch ein sehr feines Mädl – wohl vom ‚Kurfürsten­damm‘ war, dazu. Er siezte mich erst, er war, wie er selbst sagte, zu nord­deutsch, um gleich in Stimm­ung zu sein. […] Seinen Namen nannte er nicht, aber er war kavalier­mäßig u. gütig sorg­sam, schnitt mein Roast­beef­bröt­chen zurecht u. hatte gütige, aber stahl­harte blaue Augen. Papa u. Mama waren auch unten, ich tat aber, als ob sie nicht zu mir ge­hörten.“

Leonie und ihr Kavalier kommen sich im Laufe des Abends näher. Leonie gelingt es, ihren Vater ab­zu­schütteln, der auf sie auf­passt. Ihr Ver­ehrer be­steht darauf, sie nach Hause zu bringen – und Leonie nimmt das An­gebot nach einigem Zögern an.

„Im Auto um­armte er mich. Ich wehrte mich, denn er suchte meinen Mund, seine Zunge be­rührte meine Lippen u. meine Zunge u. das war mir ein bischen un­angenehm. (Nicht mal sehr eklig – er war so appetit­lich u. Nicht­raucher). ‚Wie bei einer Operation‘, entfuhr es mir, als ich mich so wehrte. Er ließ einen Augen­blick nach, dann küßte er mich noch heftiger u. seine Hände suchten wie rasend unter mein Kleid zu ge­langen an meinen Schenkel. ‚Du bist gemein.‘ Sofort ließ er ab. ‚Gemein will ich nicht sein, Du hast Glück, daß Du an mich ge­kommen bist. Doch warum willst Du Dich nicht geben, Du hast Temperament, Du kleiner Satan, gib Dich – sieh, morgen weißt Du von nichts mehr.‘ (Aber über­morgen zeigen sich vielleicht schon Folgen, dachte ich.) ‚Warum willst Du Dich erst in der Ehe geben, glaubst Du, daß Dein Mann all Dein Temperament weckt. – Sieh, aber ich will Dir etwas ins Ohr sagen: An diese Fahrt im Wagen sollst Du denken, auch wenn Du schon lange ver­heiratet bist.‘ – Ich war so dumm zu sagen: ‚Sei nicht theatralisch‘, was ihn, glaube ich, sehr ver­letzte. Und er war ein an­ständiger Mensch, denn wenn ein junges Mädchen sich (gern, wie er merkte) küssen läßt, so darf sie nichts sagen, wenn er in der schwülen Stimm­ung, im Taumel, seine Hände ver­gißt. Um so fabel­hafter war es, daß er sofort auf­hörte. ‚Gib mir zum Schluß noch einen Kuß auf den Mund.‘ Das wollte ich nicht u. so küßte er mich zum Ab­schied. Ich wäre gerne noch an seinem Halse hängen ge­blieben u. dachte noch stunden­lang an ihn und daß er mir doch gern Hals u. Brust hätte küssen dürfen. Ach ich ärgerte mich über mich, daß ich wieder mal zu albern war, und nicht genug ge­nossen habe. Wie hätte er mich küssen dürfen! Alles hätte ich ihm gern ge­geben, soweit es nicht die Furcht vor Folgen ver­bot. Von Scham oder keuscher Angst war in jenem Augen­blick nichts mehr in mir! Ihm muß es auch ärger­lich sein, so mitten­drin auf­hören zu müssen. Einem Manne ärger­licher als einem Mäd­chen. – Gerne hätte ich ihm noch, um ihn zu ver­söhnen, gesagt, daß es mir schmerz­lich wäre zu ver­sagen, – daß es für mich beim Heiraten doch kaum ein ‚Geben, schenken‘ gibt, nur ein Genommen werden, pflicht­schuldigst am ersten Tag, ob in Stimm­ung oder nicht – kein Fest der Liebe, aber dann waren wir schon am Kaiser­hof u. viel blieb un­gesagt, un­geküßt.“

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Während die Meyers noch in Berlin sind, werden sie von Herrn M. auf­gesucht, der Leonie in Wies­baden als Heirats­kandidat präsentiert worden war.

Tagebucheintrag vom 6. Mai 1911

„[Er] kam ein paar Mal, aber nur ganz flüchtig u. un­persön­lich. Dann zu Papa. Und erzählte dem, daß sein ver­storbener Onkel sein ganzes Ver­mögen in eine un­sichere Sache ge­steckt hätte. Und er nicht eher heiraten wolle, ehe es reguliert. Aber er hoffe, bald... Nun war Papa sehr traurig, da er ihn gern mochte. Doch er schien die Sache als er­ledigt zu be­trachten. Ich fragte mal später danach: ‚Man hat doch keine Lust, sein ganzes Ver­mögen da hinter­her zu werfen. Es ist nicht mehr daran zu denken.‘ Das ärgerte mich. Nicht weil ich mein Herz an ihn gehängt, ich bin sogar froh über die Lösung, aber dass Papa mich so als Baga­telle be­trachtet. Erst stellt er ihn vor. Fragt mich, wie ich ihn finde. ‚Ver­liebt bin ich nicht, aber ich kann ihn ja nehmen!‘ Darauf Ent­rüstung bei Papa, daß ich so kühl. Dann plötz­lich weil er in solcher Kala­mität, findet er es ganz selbst­verständlich, daß alles aus u. das das ganze Er­eignis mit keinem Worte mehr ge­streift wird. Wenn nun, wie er das wollte, mein Herz wirk­lich dabei im Spiel ge­wesen wäre? Bei dieser Art, die Ge­schichte als selbst­verständlich be­endet zu be­trachten, zeigt er doch deutlich, daß er auf mein Herz nicht rechnet, wozu also dann die Em­pörung, wenn ich das ehr­lich sage, daß ich es nur aus Ver­nunft getan hätte. Mit Liebe kann man doch nicht so um­springen u. nach Be­lieben ‚Schluß‘ komman­dieren!“

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Im Juni 1911 ist Leonie wieder zu einem Polter­abend ein­geladen, der aber „öde“ ist, obgleich sie sich in einem „rosa Liberty­kleid“ sehr heraus­geputzt hat und Kom­pli­mente bekommt: „sehe besonders gut aus, was mir Rudolf, der einen Schwips hatte, an­dauernd sagte.“

Vom 15. Juli bis 13. August 1911 ver­bringen die Meyers wieder ihren Sommer­urlaub in Marien­bad. Mittler­weile sind zwei Jahre ver­gangen, seit Leonie Meyer hier Fritz Oliven kennen­gelernt hatte. Er spukt immer noch in ihrem Kopf herum.

„In Marien­bad erzählte mir Frau Rat F., daß Dr. O[liven] noch immer an mich dächte, ob er her­kommen sollte. Ich sagte nicht ja, denn lang­sam hatte ich mich an den Ge­danken ge­wöhnt, daß es nichts werde u. wollte nicht wieder aus dem Gleich­gewicht heraus.“

Um auf andere Gedanken zu kommen, ver­bringt sie viel Zeit mit Herrn L., dem Pro­kuristen einer Groß­bank. Sie ist von ihm an­getan, da er „hübsch, groß u. blond“ ist und sie „ja doch mal heiraten mußte“ und sie der „Vor­stellerei“ ohne­hin über­drüssig ist. Aber Herr L. hat „tausend materielle Be­denken“ und reist plötz­lich ab.

Im Sep­tember 1911 fährt Leonie Meyer mit ihrem Vater nach Berlin. Dort wird sie von Frau Rat F., die ihr vor zwei Jahren Fritz Oliven in Marien­bad vor­gestellt hatte, zum Mittag­essen ein­geladen. Man geht in das Wein­haus Rhein­gold am Pots­damer Platz – und es kommt zu einer un­erwarteten Wieder­begegnung:

Schwarz-Weiß-Porträtfoto eines stehenden jungen Mannes. Der Körper ist frontal, der Kopf nach links gedreht im Dreiviertelprofil zu sehen. Er trägt einen Schnurrbart und einen Gehrock, in der Hand hält er einen Zylinder und Gehstock mit Fritzgriff.

Fritz Oliven als junger Mann im Gehrock, Atelier­aufnahme (Königl-Hof-Photo­graph J.C. Schaar­wächter), Berlin, 1900; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/147/18, Schenkung von Familie Oliven

Tagebucheintrag vom September 1911

„Als ich ins Rhein­gold kam, stand plötz­lich Fritz Oliven bei Rats [F.]. Und wir waren gleich wieder gut Freund, ich neckte ihn mit einer Grape­fruit, die er bestellte, suchte ihm aus und fand den­selben großen Buben von vor 2 Jahren. Dann brachte er mich zu Becca und unter­wegs discutierten wir über Lebens­fragen u. waren stets ganz ver­schiedener Mein­ung. Er erzählte immer, daß er nichts täte, auf dem Sofa läge – ich machte ihm klar, daß ich eine ent­gegen­gesetzte Natur sei. Vor Beccas Haus sagte er: ‚Auf Wieder­sehen heute Abend.‘ ‚Ach, sind Sie auch nachher im Fürsten­hof?‘ ‚Darf ich nicht schon ins Theater kommen?‘ ‚Ja‘. Mit diesem ‚Ja‘ wußte ich, hatte ich eine Zu­sage gegeben, die weiter ging, das ahnte ich. Und im Theater waren seine ver­heirateten Schwestern. Ich hatte das übrigens geahnt, und hätte mich gewundert, wenn sie nicht die Neu­gierde gehabt hätten, mich end­lich ein­mal zu sehen. Und sie kamen mit in den Fürsten­hof u. waren nett, aber Dr. Oliven ärgerte ich aus Oppositions­geist.“

Nach einem ver­gnügten Abend im Hotel Fürsten­hof am Pots­damer Platz erwartet Leonie am nächsten Morgen eine Über­raschung:

„Und am nächsten Morgen wachte ich auf u. bekam einen Rosen­strauß ans Bett. Und murmelte immerzu: Es gibt nichts, es gibt nichts, denn ich fand unsere Lebens­an­schau­ungen zu ver­schieden. Und gleich darauf klingelte er an, ob ich um 12 mit ihm spazieren­gehen wolle. Und ich sagte: ‚Ja.‘ [...] Ich ging dann Ein­käufe machen u. dachte an nichts mehr, bis um 12. Da stand er, sagte, er habe ein Auto warten und schleppte mich hinein. Und ich redete erst ein bischen von Samt­kleidern; bis er mich plötz­lich unter­brach: Sie sind doch ein ver­nünftiger Mensch, glauben Sie, daß wir zwei mit­ein­ander leben können? Und ich sagte: ‚Ich habe so Angst, daß Sie dabei un­glück­lich werden, denn ich bin zu energisch und wir sind so ver­schiedene Cha­rak­tere.‘ ‚Haben Sie mich gern?‘ ‚Ja‘. ‚Na dann ist alles gut, [...]. Sie sind eine Frau, auf die man sich ver­lassen kann. [...]‘ Dann ver­suchte er mir einen Kuß auf die Backe zu geben, der aber in der Luft hängen blieb. Dann am [Bahn­hof] Zoo­lo­gischen [Garten] stiegen wir aus, und gingen spazieren und setzten uns auf eine Bank und er nahm meine Hand und redete von so vielen Dingen, die ein Bräuti­gam sonst nicht sagt und am lieb­sten hätte er mir gleich alles aus seinem Leben er­zählt, er mag so un­gern was allein tragen, ist so mitteilungs­bedürftig. Von den zwei da­zwischen liegen­den Jahren redeten wir keine Silbe. Und dann gingen wir ins Hotel, Papa war gerührt, Mama am Tele­phon erschreckt, sie hatte ja auch, da ich mich nie aus­spreche, als ich ab­reiste, nicht ge­ahnt, was würde. Auch zu Fritz’ Mutter gingen wir, an der er sehr hängt.“

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Nach Jom Kippur kommt Fritz zu seinem Antritts­besuch nach Han­nover: 

Tagebucheintrag vom Oktober 1911

„In Han­nover wurde es über Ver­söh­nungs­tag ge­heim ge­halten, was mir sehr schwer war, aber ich habe ja schwei­gen ge­lernt. Diens­tag kam er, abends kamen gleich einige Ver­wandte. Mitt­woch, um uns mal in Ruhe zu sprechen, gingen wir nach Barsing­hausen. Es ist sonder­bar, wie ver­traut und un­geniert wir gleich waren – so intim vom ersten Augen­blick an wie Ehe­leute, keine falsche Scham, ich erröte nicht, geniere mich nicht, schaudere nicht mehr bei manchen Ge­danken, ich hätte nie gedacht, daß man so natür­lich mit­einander reden könnte. Einmal sagte ich ihm, daß die meisten Braut­paare nicht so natürlich mit­einander redeten, weil die meisten Bräuti­game nicht möchten, daß ihre Bräute so wissend sich zeigten, die müßten das weiße Gäns­chen spielen. Ich hätte mich auch darauf ein­gerichtet, aber er sagte, das hätte ich nicht nötig u. ich finde das ver­einfacht die Sache sehr. [...] Ich soll ihn nur nie be­trügen, sollte ich ihm schwören. Ich tat es nicht, denn man weiß ja nie, was kommt. Ich beruhigte ihn aber soweit, daß es nur an ihm liegen könne, wenn ich es täte, wenn er mich erst ein Über­maß von Zärt­lich­keiten lehrte u. dann hungern ließe. Schon am ersten Tage lehrte er mich, als nie­mand es sah, Zärt­lich­keiten, die ich nie geahnt u. mich ganz in Ver­wirrung brachten. Ich sagte ihm ganz offen, daß die am Anfang der Braut­zeit Tier­quälerei seien u. er ließ sie. Ich nehme mich sehr zusammen u. bleibe bis jetzt mit äußerster An­stren­gung kühl, denn ich sage mir, wenn ich mich ganz offen­bare, habe ich keine Waffe mehr, ich bin so schon viel zu ver­liebt u. gebe immer nach, bin viel zu weich.“

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Die beiden sehen sich in den nächsten Wochen immer wieder, mal in Han­nover, mal in Berlin. Sie lernen sich besser kennen und ver­lieben sich immer mehr ineinander, wie Leonie in ihrem Tage­buch festhält:

Tagebucheintrag vom 9. November 1911

„Fritz ist sehr gut und jedes­mal wenn er hier war, sehe ich unserer Ehe froher entgegen, kein bischen Angst habe ich. Ich fühle in allem was er sagt u. denkt, daß er mich herz­lich lieb hat, in allem schimmert die Freude, mich zur Frau zu be­kommen durch. [...] Er fühlt und denkt so an­ständig und ist gar nicht so blasiert [arrogant] wie ich dachte, jungen­haft froh, glück­lich wenn man gut zu ihm ist, im Guten butter­weich, aber er weiß, was er will zum Glück. Der einzige von meinen Be­denken, das ich ihm immer wieder be­tone, ist, daß er sein Bureau auf­gibt und nur dichten will zu Hause –. Ich bin zu sehr Banquiers­tochter und das von der großen Mei­nung ab­hängig sein, ist mir un­heimlich. Er braucht eine starke Frau, die sich stets gleich bleibt, denn wenn er irgend­wie Miß­erfolg hat oder etwas ihn drückt, ist er gleich (er ist so sen­sible, das liebe Kerl­chen) so deprimiert. Und dann will er zu mir ge­laufen kommen. Und es ist gut, daß ich so bin, wie ich bin. Aber es ist doch eine selt­same Mischung, die er ver­langt – reich und stark. Ob ich wohl so reich bleibe – denn mein Cha­rakter ist doch mehr fest, ein bischen laut, herr­schend und an­ordnend. Aber wenn er so gütig zärt­lich bleibt, bin ich ja ent­waffnet. Er hat noch, trotz seiner langen Jung­gesellen­zeit, sehr sehr viel frische, junge Zärt­lich­keit für mich über. Ein bischen traurig wurde ich im An­fang immer bei seinen Lieb­kosungen, die mir stürmisch schienen. Eine Frau, die so lange alle ihre Liebes­wünsche hat ver­bergen müssen, kann nicht gleich so wohl sich dabei fühlen, dies ‚auf den Mann stürzen‘ wie es manche tun, liegt mir nicht. Ich war erst passiv – fast ‚duldend‘ kam ich mir vor – wagte nicht, meinen Wünschen Ge­hör zu geben u. schämte mich ihrer. Doch ich danke ihm im Stillen die gütige, vor­sichtig wer­benden Lieb­kosungen, und die Mühe, die er sich mit mir gibt.“

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Es kommt aber auch zu ersten Irrita­tionen bei Leonie, als sie erfährt, dass sie in ihrer ge­meinsamen Woh­nung in Berlin getrennte Schlaf­zimmer haben werden. Fritz könne nicht schlafen, wenn je­mand anderes im Raum sei.

„Und ich konnte an­stands­halber nicht ‚nein‘ sagen, das hätte so aus­gehungert aus­gesehen.“

Und inmitten der Hoch­zeits­vor­be­rei­tungen kommt es zum ersten Streit des jungen Paares:

„ich hatte auf der Ein­ladungs­liste ein paar streichen wollen, was Fritz nicht paßte, da war er be­leidigt, so traurig, als ob er heulen wollte. [...] Und nun bin ich ängst­lich geworden, denn meine Zunge ist sehr schnell u. wenn mein eigener Mann emp­findlich ist, wird es schlimm für mich.“

Ein­einhalb Jahre lang war das Tage­buch Leonies treuer Be­gleiter. Am 11. Januar 1912, fünf Tage vor der Hoch­zeit, schreibt sie den letzten Ein­trag hinein, zwischen Weh­mut, Vor­freude und Bangen schwan­kend: 

Eine Frau und ein Mann stehen gemeinsam auf einer Treppe vor einem Haus. Sie trägt einen riesigen Hut und Handschuhe zum dunklen Kleid und hat sich bei ihm eingehakt, er trägt einen Anzug mit Einstecktuch.

„Das Brautpaar“: Leonie Meyer und Fritz Oliven in ihrer Verlobungs­zeit, Han­nover, Oktober 1911; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/428/0, Schenkung von Familie Oliven

Tagebucheintrag vom 11. Januar 1912

„Nun geht meine Braut­zeit zu Ende, die eine un­getrübt schöne war. Jedes­mal, wenn Fritz kommt, wird er mir lieber, der gute, treue Bube, der so zärt­lich und gütig sein kann – und – frech. Mich erschreckt ja noch vieles und manch­mal habe ich Angst vor dem Ehe­leben. Und für ein Mäd­chen ist es doch eine größere Ver­änderung als für einen jungen Mann. Ich gehe aus der Vater­stadt, an der ich so hänge, aus meinem Eltern­hause, aus dem alten lieben Freundes­kreis in so ganz neue Um­gebung, um ein ganz anderes Leben zu führen als bis­her. Ich habe wohl die Fähig­keit, mich sehr rasch ein­zu­leben, aber die neuen Be­kannten sind mir doch nicht gleich das, was meine alten Freunde mir waren. Und ob ich mit meinen Schwäge­rinnen gleich so ver­traut werde, weiß ich nicht, wir sind noch ein bischen con­ventio­nell zusammen, auch mit der Schwieger­mutter und ich habe Angst, daß sie stets Fritz Partei er­greifen werden, weil sie so sehr in ihn ver­liebt sind.“

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Die letzten Zeilen lauten: 
 

„Nun will ich aber dies Buch ab­schließen mit dem Wunsch, daß das neue Leben, das ich nun beginnen werde, mir eben­soviel frohe, so wenig trübe Tage bringt, wie das alte. Und mein Fritz so bleibt, wie in der Verlobungs­zeit und ein gütiges Ge­schick über unserer Ehe walte. Daß unsere Liebe sich stets gleich bleibe, täglich neu und ewig jung, damit unsere Ehe schließ­lich, die mit einem Über­maß an Liebe begonnen, nicht als ein stumpfes, gewohnheits­mäßiges Neben­einander­hergehen endige. Daß Krank­heit und Un­glück unsere[r] Schwelle fern bleibe.“

Zitierempfehlung:

Jörg Waßmer (2021), „Nein,
ich will Dr. O.“. Leonie Meyers Tage­bücher aus den Jahren vor ihrer Ehe­schlie­ßung (1910–1912).
URL: www.jmberlin.de/node/7741

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