Pack die Badehose ein

Ein neues Führungsangebot für Menschen mit Demenz im Jüdischen Museum Berlin

Foto der im Fließtext beschriebenen Tanzszene, im Hintergrund eine Leinwand mit Strandfoto

Tanzen zum Schlager von 1951. Alte Lieder bleiben trotz Demenz sehr lange in Erinnerung; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Mit Verwunderung und Skepsis, aber auch mit großem Interesse reagierten Kolleg*innen und Freund*innen, wenn ich von meinem Projekt erzählte: Als wissenschaftliche Volontärin in der Bildungsabteilung war ich mit der Aufgabe betraut, ein Besuchsprogramm speziell für Demenzbetroffene bei uns im Jüdischen Museum zu entwickeln.

Ich bin sehr gespannt, als die Konzeption des Projektes abgeschlossen ist und wir das Programm testen wollen. Dazu haben wir eine Gruppe aus einer Tagespflege eingeladen.

Der Kleinbus mit großer Aufschrift der Charlottenburger Einrichtung fährt auf das Museumsgelände und schwungvoll öffnet Andreas Rath, der Leiter und heute auch Busfahrer, die Tür. Gute Laune ist hier Programm. Mit einem Reim stellt er mir jede*n der sechs Besucher*innen vor. Meine Anspannung fällt ab, ich glaube, das wird gut! Eine Dame stützt sich auf einen Rollator, die anderen sind gut zu Fuß. Wir gehen ein Stück durch den Museumsgarten, der Blick fällt auf die kleinen Früchte der Zierapfelbäume, Frau Leßmann, Kriminalkommissarin a.D., erkundigt sich nach dem Pflanzennamen.

Foto von erfreut lachenden Teilnehmerinnen

Bei der Bildbetrachtung erinnern sich die Teilnehmer*innen an eigene Strandbesuche; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Nach dem Vorbild des MoMA in New York laden mittlerweile viele Museen – vor allem Kunstmuseen – zu Führungen und Gesprächen für Menschen mit Demenz ein. Gemälde und Skulpturen eignen sich dafür, denn das ästhetische Erleben von Kunst funktioniert auch ohne die klassische Wissensvermittlung. »Gefällt Ihnen das Bild?«, »Worüber freut sich die Porträtierte wohl so?« Es geht um Gefühle und Stimmungen und darum, einen Bezug zur Lebenswelt der Teilnehmer*innen zu schaffen.

Aber lässt sich ein Programm für Menschen mit dementiellen Veränderungen auch in einem kulturhistorischen Museum anbieten? In einem jüdischen Museum?

Eine Kaffeetafel mit älteren Menschen, dahinter gibt eine Fensterfront den Blick auf den Garten des Jüdischen Museums Berlin frei

Mittendrin im Museumsgeschehen – die Teilnehmer*innen trinken Kaffee im Glashof; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Ankommen und Kennenlernen

Im Glashof ist eine Kaffeetafel vorbereitet, Muscheln und Treibholz dekorieren den Tisch und führen in das Thema »Am Strand« ein. Frau Baumgardt greift beherzt ein Stück Treibholz und stellt enttäuscht fest »Oh, das ist gar keine Schokolade«. Frau Horlemann, ehemals Literaturprofessorin, sagt zwei selbstgeschriebene Limmericks auf und erzählt aus ihrem Leben. Sie wohnte lange in den USA, aber wo genau? Man kann förmlich dabei zusehen, wie sie tief im Gedächtnis gräbt und ihr die Orte doch nicht einfallen wollen. Sie will es uns später sagen.

Hände hantieren mit einem alten Fotoapparat

Wie funktionierte das noch mal? Ein analoger Fotoapparat aus den 1930er-Jahren; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Das gemeinsame Kaffeetrinken ist ein wichtiger Bestandteil des Programms. Die Teilnehmer*innen kommen in ruhiger und gemütlicher Atmosphäre in der neuen Umgebung an und haben Zeit, die*den Guide kennenzulernen. Außerdem taucht hier zunächst kulinarisch das Thema Judentum auf: Kleine, selbstgebackene Challot werden gereicht, unser Guide Muirgen Gourgues, die mit vier weiteren Guides von der Alzheimer Gesellschaft Berlin vorbereitet wurde, stellt sie als traditionelles Gebäck aus der jüdischen Küche vor. Die Hefezöpfe kommen gut an und die Pflegerin fragt nach dem Rezept, bald sollen auch in der Einrichtung Challot gebacken werden.

Ein großes Fragezeichen bei der Vorbereitung war nämlich: Wie kommen wir auf unser Kernthema Judentum zu sprechen? Demenz-Experten gaben in Gesprächen zu bedenken, dass die Reaktionen sehr unterschiedlich sein können. Gerade weil die Kindheit und Jugend bei Demenzbetroffenen häufig präsenter ist als die jüngere Vergangenheit, können bei in den 1920er- und 30er-Jahren Geborenen Erinnerungen an die NS-Zeit geweckt werden, auch an damals propagierte Stereotype von Juden und Jüdinnen. Wie wollen wir darauf reagieren, wenn Ablehnung oder sogar Schlimmeres geäußert werden?

Fotos vom Strand

Schwarz-Weiß-Foto einer lockigen Frau am Strand, die auf dem Bauch im Sand liegt und einen beschuhten Fuß in den Himmel streckt

Ilse Winter (1912–1999) am Strand; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Gabriel Heim

Wie in Kunstmuseen wählen anschließend auch wir als inhaltliches Format eine Bildbetrachtung. In ausgewählten Fotografien aus unseren Familiensammlungen wollen wir den Teilnehmer*innen einen Einblick in das Herzstück unserer Sammlung geben und einen persönlichen Zugang ermöglichen. Der erste Schultag, Ferien am Meer, die Hochzeitsfeier – solche besonderen Ereignisse im Leben können für Demenzbetroffene »Erinnerungshügel« sein, die oft lange erhalten bleiben. Im Bildaufbau und Arrangement folgen die klassischen Familienfotos oft einem bestimmten Muster und haben für die Betrachter*innen somit eine gewisse Allgemeingültigkeit: Wir kennen die Abgebildeten nicht und erkennen in den Bildern dennoch eigene Erinnerungen.

Ein Dia-Projektor wirft ein Schwarz-Weiß-Foto von vier Kindern und einem umgekippten Strandkorb auf eine Leinwand.

Mit dem Dia-Projektor kommt nostalgische Stimmung auf; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Vom lichten und belebten Glashof wechseln wir also in das leicht abgedunkelte Auditorium. Hier sind schon Stühle im Halbkreis aufgestellt. Der Diaprojektor brummt, klack, das erste Foto erscheint auf der Leinwand: Ilse Winter liegt 1929 am Strand von Heringsdorf und lacht in die Kamera. Herr Rath schmeichelt der Gruppe, »Frau Horlemann, das sind doch sie!«, frohes Gelächter in der ersten Stuhlreihe. Per CD-Player setzen Strandgeräusche ein, man hört die Brandung und Möwengeschrei und wähnt sich am Strand von Usedom. Eine Schüssel mit Sand wird herumgereicht, die feinen Körner rieseln durch die Hände der Teilnehmer*innen, die Strandatmosphäre ist geschaffen.

Das nächste Foto zeigt Familie Simon am Strand von Nahariya, Guide Muirgen Gourgues erzählt, dass die Familie aus Deutschland nach Israel emigriert ist. »Wo haben sie in Deutschland gelebt?«, möchte Frau Leßmann wissen. »Was für einen Beruf hat Herr Simon in Deutschland ausgeübt?« Das Interesse an den Biographien der Abgebildeten überrascht uns, hatten wir uns doch mehr auf eine detaillierte Betrachtung der Fotografien eingestellt und uns vorgenommen, bei der Vermittlung bloß nicht zu viel Hintergrundwissen einzubringen.

Mit allen Sinnen

Ein Mann schnuppert an einem Glas.

Eine Brise von Meer im Museum. Herr Krüger mit einem Glas getrockneter Algen; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Vielmehr ist die Betrachtung als Sinneserlebnis gedacht: Riechen, Hören, Fühlen, Schmecken – die Fotografien sollen lebendig werden. Muirgen Gourgues öffnet ein Schraubglas mit Algen und gibt es zum Schnuppern herum. »Das riecht nach Meer«, stellt Herr Krüger fest. Es erklingt der Schlager Pack die Badehose ein und einige Teilnehmer*innen stimmen sogleich mit ein. Frau Horlemann wird von Betreuer Andreas Rath gar zu einem Tänzchen aufgefordert, sie dreht sich gekonnt an seiner Hand, ihr weiter Rock schwingt. Die anderen Teilnehmer*innen schauen ihnen vergnügt zu.

Zweimal verirren sich versehentlich andere Museumsbesucher*innen in unseren Raum. Ein älterer Herr bleibt in der Tür stehen, als einige Teilnehmer*innen gerade Eine Seefahrt, die ist lustig singen. Er stimmt spontan mit ein und es hat den Anschein, als würde er gerne bleiben und mitmachen.

Wir betrachten noch zwei weitere Fotografien aus den Familiensammlungen, es gilt: Weniger ist mehr. Zum Abschluss posieren die Teilnehmer*innen für ein Erinnerungsfoto vor der Polaroid-Kamera. Frau Leßmann wählt den großen Sonnenhut, Herr Krüger nimmt die aufblasbare Ente mit aufs Bild. Aufgeklebt auf einen beschrifteten Fotokarton entsteht so ein Souvenir zum mitnehmen. Es bleibt – auch wenn sich manch eine*r schon morgen nicht mehr an den Museumsbesuch erinnern kann.

Drei Exemplare der im Fließtext beschriebenen Souvenirs

»Bitte lächeln!« Das Polaroid als Souvenir und Erinnerung an den Nachmittag im Jüdischen Museum; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr

Und das Thema Judentum?

Die Frage, wie die Teilnehmer*innen auf unser Kernthema Judentum reagieren, können wir nach dieser ersten Runde vielleicht so beantworten: Einige waren interessiert und offen. Eine Dame merkte an, dass sie »das Thema« in der Schule besprochen hatten. Eine andere Teilnehmerin begrüßte, dass Religion an diesem Nachmittag keine so große Rolle gespielt hat, wie sie es offenbar erwartet hatte. Herr Krüger drückte mir zum Abschied am Auto die Hand und sagte, er hätte gerne mehr über Israel und das jüdische Volk erfahren.
Es ist also durchaus möglich, in unserem Haus ein Angebot für Menschen mit Demenz zu machen, auch ohne intellektuelle Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Geschichte. Bei diesem Programm geht es vielmehr um Teilhabe – an kulturellen Angeboten, am Erlebnisort Museum, an der Gesellschaft.

Einige Tage später bekommen wir eine Mail aus der Einrichtung mit Eindrücken vom Besuch bei uns. Herr Brandtmüller lässt ausrichten: »So gern es mir auch leid tut! – es war richtig gut! So genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, aber ich war mit und es hat mir gefallen.«

Susanne Schuur war selbst bisher wenig mit dem Thema Demenz in Berührung gekommen, nach einer Fortbildung zur Kulturellen Vermittlung für Menschen mit Demenz (dementia+art) in der Gemäldegalerie Berlin und dem Austausch mit einer Expertin für Kulturgeragogik (Kulturarbeit mit Älteren) ist sie mittlerweile voll überzeugt von der Relevanz solcher Bildungsangebote.

Die nächsten Termine der Bildbetrachtungen für Menschen mit Demenz finden Sie in unserem Veranstaltungskalender.

Veröffentlicht unter Bildung, Fotografie, Geschichte, Im Jüdischen Museum Berlin
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Kommentiert von Jochen Schmauck-Langer am 2. November 2018, 14:44 Uhr

Liebe Frau Schuur,

das ist ein schönes Format geworden, bei dem sich die Möglichkeiten der Vermittlung und der Sammlung gut ergänzen. Besonders erfreulich scheint mir der Mut, die Bildungsvermittlung im engeren Sinne zu verlassen und sich eher auf eine ’schöne Zeit‘ und eine Ressourcenaktivierung für die Betroffenen zu beziehen. Sie werden im weiteren jedoch feststellen, dass diese Teilhabe-orientierte Vermittlung auch den Kontext Judentum und deutsch-jüdische Geschichte keinesfalls ausklammern wird. Viel Erfolg dabei.

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