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Doppelgänger

Einleitung zu Kapitel 7 des Ausstellungskatalogs GOLEM

Martina Lüdicke

»Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!«, schreibt E.T.A. Hoffman in Die Elixiere des Teufels. In ihren Texten loteten die deutschen Romantiker anhand von Doppelgängern, Puppen- oder Automatenwesen seelische Abgründe und Wünsche aus, die im Widerstreit mit der rational begreifbaren Welt standen. Auch die Golem-Figur wird oft mit dem vielschichtigen Motiv des Doppelgängers assoziiert: Der Golem, als vereinfachtes Abbild des Menschen, als alter ego, das verborgenen Sehnsüchten eine Gestalt gibt. Die Begegnung mit einem Doppelgänger konfrontiert den Menschen mit den unheimlichen Seiten seines Ichs. Später entwickelten sich die künstlerisch-literarischen Metaphern in den Konzepten der Psychoanalyse weiter.

Ein verstörendes Doppelgängermotiv des 21. Jahrhunderts hat der japanische Wissenschaftler Hiroshi Ishiguro mit seinem Roboter Gemenoid HI I bis IV geschaffen. Ishiguros Androide sollen ihren menschlichen Vorbildern in Erscheinung und Verhalten so ähnlich wie möglich werden. Der französische Fotograph Yves Gellie portraitiert in seiner dokumentarischen Fotoserie Human Version 2.0 Schöpfer und Geschöpf gemeinsam. Ursprünglich wollte der Roboterforscher Ishiguro selbst Künstler werden, besessen von der Idee, herauszufinden, was den Kern des Menschseins ausmacht. Mit seinen immer weiter perfektionierten Doppelgängern aus Silikon, Draht und künstlicher Intelligenz sucht er nach Erkenntnis über das Verhältnis von Mensch und Roboter. Wie kann man menschliches Verhalten, menschliche Wahrnehmung, menschliche Bewegung künstlich erzeugen? So klingen die Fragen, mit denen sich die Golem-Schöpfer von heute auseinandersetzen. Können diese Fragen eines Tages beantwortet werden? Oder wird Stephen Hawkins‘ Warnung Wirklichkeit, die er im Dezember 2014 in einem Interview mit der BBC äußerte:
»Die Entwicklung einer vollständigen künstlichen Intelligenz könnte das Ende der Menschheit mit sich bringen… erstere würde sich selbstständig machen und sich in einer ungeheuren Geschwindigkeit ständig neu entwickeln. Menschen, durch die langsame, biologische Evolution gebremst, könnten nicht mithalten und würden schnell überflüssig.«

Martina Lüdicke ist Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungskuratorin am Jüdischen Museum Berlin. Als Kuratorin arbeitete sie an den Ausstellungen Weihnukka, Heimatkunde, Die ganze Wahrheit... was Sie schon immer über Juden wissen wollten und Haut ab! haltungen zur rituellen Beschneidung.

Zitierempfehlung:

Martina Lüdicke (2016), Doppelgänger. Einleitung zu Kapitel 7 des Ausstellungskatalogs GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4710

Golem als Actionfigur (Ausschnitt)

Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis

Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
Kapitel 1
Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
Avatare – von Louisa Hall
Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
Kapitel 2
Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
Kapitel 3
Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
Rituale – von Christopher Lyon
Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
Über den Golem – von David Musgrave
Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
Kapitel 4
Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
Golem-Variationen – von Peter Schäfer
Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
Kapitel 5
Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
Kapitel 6
Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
Kapitel 7
Aktuelle Seite: Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
Siehe auch
GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017

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