Rituale

Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM

Christopher Lyon

Charles Simonds’ Birth (1970), ein Ritual, das der Künstler in einer Lehmgrube in New Jersey vollzog, wurde sowohl auf zehn Farbfotografien dokumentiert, die einer Sequenz aus Filmstills ähneln, als auch auf einem eigenen kurzen Film. Die Fotos bieten den genaueren Blick, doch der Film, an einem wolkenverhangenen Tag gedreht, hat eine aufwühlendere Wirkung: Wie aus dem Geburtskanal sieht man Simonds’ Körper langsam hervorbrechen, durch eine Öffnung, die man für eine riesige Vagina halten kann. Als der Körper sichtbar wird und beginnt, gegen die Erde zu stoßen, um sich zu erheben, kommt wundersam die Sonne zum Vorschein und taucht die Szene in goldenes Licht.

Noch zwei weitere Rituale von Simonds aus derselben Phase – Landscape-->Body-->Dwelling (1970) und Body-->Earth (1971) – wurden auf 16-Millimeter-Farbfilm gefilmt, und jeweils in den Jahren 1973 und 1974 wiederholt; Rudy Burckhardt führte dabei die Kamera.

Obgleich derart im Bild dokumentiert, handelte es sich nicht um Performances, sondern um Erlebnisse, die der Künstler für sich selbst schuf. Sein Ziel, so erklärte er, sei es, „mich selbst erfahren zu lassen, was ich glaube oder denke […]. Es ist wie das Nachspielen von etwas, das ich fühle […] und dadurch auf eine ganz sinnliche Weise zurückerhalte.“1

Diese existenzielle Dimension seines Werks geht mit eindringlichen psychologischen Assoziationen einher. Simonds erklärt sich unabhängig von Familienbanden und bezeichnet zugleich seinen eigenen Status als den eines „Heimatlosen“.

Von diesem Punkt an besteht der emotionale Antrieb seiner Arbeit darin, wie er es formuliert, „Heimat zu schaffen“ – für seine berühmten Little People, aber ebenso für sich selbst. Die existenzielle und die psychologische Dimension verschmelzen, indem „Heimat“ die Form von „Behausungen“ annimmt.

Beim Betrachten der Filme faszinieren nicht nur die intim-experimentellen Aspekte von Simonds’ Arbeiten, sondern auch die archetypischen Anklänge: Der „weiche, nasse, pinkfarbene, klebrige Lehm“, wie Simonds sagt, ist das geschmeidige Material, aus dem Gott oder die Götter der sumerischen, jüdischen, griechischen und muslimischen Mythologie zufolge den Menschen erschufen, und aus dem Rabbi Loew den Golem formte.

Filmstill aus dem Film „Birth“ von Charles Simmonds: Eine unbekleidete, mit Sand und Erde bedeckte Frau liegt auf einem sandigen Boden.

Birth (Filmstill)
Charles Simonds, USA, 1970
38,5 x 250 cm
Courtesy of Charles Simonds

Wie die Titel dieser Arbeiten mit ihren vorwärts und rückwärts weisenden Pfeilen nahelegen, ist Simonds’ Kunst zyklisch und reflexiv. Nach einer rituellen Wiedergeburt wird der Künstler selbst zur Erde, auf welcher die Behausungen der Little People zu erscheinen beginnen. Im Film Body-->Earth (1974) sehen wir eine urtümliche Landschaft von schwer einschätzbaren Ausmaßen, gefolgt von Nahaufnahmen, in denen sich lehmbedeckter Körper und Schlamm kaum voneinander unterscheiden lassen. Doch es ist Burckhardts 16-Minüter Landscape --> Body --> Dwelling (1973), der den Künstler am effektvollsten als Gott inszeniert: wie er zugleich aus sich selbst und außerhalb seiner selbst eine Welt erschafft, so wie es die Kabbalisten von Gott, dem Schöpfer, annahmen.

Christopher Lyon ist Schriftsteller und lebt in Brooklyn. Für das amerikanische Magazin Bookforum schreibt er die Kolumne Artful Volumes. Er ist Inhaber des Verlages Lyon Artbooks. 2010 erschien seine Kunstmonographie Nancy Spero: The Work.


  1. Charles Simonds im Gespräch mit Christopher Lyon, 31. Juli 2012, Archives of American Art, Smithsonian Institution. ↩︎

Zitierempfehlung:

Christopher Lyon (2016), Rituale. Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4692

Golem als Actionfigur (Ausschnitt)

Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis

Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
Kapitel 1
Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
Avatare – von Louisa Hall
Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
Kapitel 2
Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
Kapitel 3
Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
Rituale – von Christopher Lyon
Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
Über den Golem – von David Musgrave
Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
Kapitel 4
Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
Golem-Variationen – von Peter Schäfer
Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
Kapitel 5
Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
Kapitel 6
Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
Kapitel 7
Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
Siehe auch
GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017

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