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My Light is Your Life

Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM

Anna Dorothea Ludewig

Ist der Golem eine Lichtgestalt? In der wohl bekanntesten Golem-Legende wird er uns als Retter der Prager Juden präsentiert, denn Rabbi Judah Loew kann darin seine Gemeinde mithilfe der mythisch-mystischen Kreatur vor Vertreibung und Tod bewahren und die Judenstadt (vorübergehend) zu einem sicheren Ort machen. Der Maharal (Moreinu ha-Rav Loew) soll den Golem im 16. Jahrhundert als Reaktion auf eine konkrete Bedrohung geschaffen haben; aus einer anorganischen Substanz (Erde) geformt, wurde ihm Leben eingehaucht – eine »kleine« Schöpfungsgeschichte ist dieser Akt, denn der Golem bleibt unvollkommen, ihm fehlt die Sprache, und über seine Empathiefähigkeit gehen die Meinungen auseinander. Durch seine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit bleibt er eine unbeholfene, von seinem Meister abhängige Kreatur, deren übermenschliche Kräfte im Guten wie im Bösen eingesetzt werden können.

Der Schöpfer und Meister kann aber nur ein ebenso frommer wie gelehrter Jude sein; also ist die Erschaffung eines Golem kein hybrider Akt, wie es in zahlreichen anderen Geschichten um künstliche Menschen und Monster berichtet wird, sondern ein Gottesdienst im wörtlichen Sinne. Die Hybris entsteht erst, wenn der Golem von seinem Schöpfer nicht rechtzeitig, also nach Erfüllung seiner Aufgabe, wieder »getötet« wird, dieser sich also anmaßt, das Wesen ohne göttliche Rückbindung für seine Zwecke einzusetzen. So gibt es zahlreiche Geschichten über Golems, die sich zunehmend der Beherrschung entziehen und schließlich ihre Schöpfer töten. Kann der Golem also eine Lichtgestalt sein?

Ein Blick in die kulturhistorische Rezeption zeigt, dass der Golem seine Wurzeln zwar in der mittelalterlichen Kabbala hat, seine allgemeine Wirkungsmacht aber erst im 19. Jahrhundert entfalten konnte, als, angeregt von den zahlreichen Märchen- und Sagensammlungen etwa der Brüder Grimm, auch im deutschsprachigen Judentum volkspoetische Stoffe ediert wurden; u.a. die Geschichten des (Prager) Golem. Im 20. Jahrhundert rückte diese Legende plötzlich in den Vordergrund: 1909 publizierte Jehuda Judel Rosenberg ein Volksbuch über den Golem in hebräischer und jiddischer Sprache und 1919 veröffentlichte Chajim Bloch eine nicht gekennzeichnete Übersetzung unter dem Titel »Der Prager Golem. Von seiner ›Geburt‹ bis zu seinem ›Tod‹«. In diesem Text wird der Golem zum Retter stilisiert, zum »Schutz der verzweifelten Juden«, zum »Symbol der Hilfe Gottes, die immer rechtzeitig kommt, wenn auch oft (wie der Golem!) im letzten, verzweifelten Augenblick« (Chajim Bloch). Der Golem wird damit zu einem Narrativ des modernen Judentums umgedeutet: In dem Versuch, dem aggressiven Antisemitismus der Vor- und Zwischenkriegszeit eine übermenschliche Retter-Gestalt entgegenzusetzen, in deren Existenz zudem das privilegierte Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk eingeschrieben ist, spiegeln sich die Konflikte und Ambivalenzen des Judentums im beginnenden 20. Jahrhundert. Und vor diesem Hintergrund ist der Golem ist eine Lichtgestalt.

Anna-Dorothea Ludewig studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 2007 promovierte sie zu dem Thema Zwischen Czernowitz und Berlin. Deutsch-jüdische Identitätskonstruktionen im Leben und Werk von Karl Emil Franzos, 1847‒1904. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam mit dem Arbeitsschwerpunkt Kultur- und Literaturgeschichte sowie Redaktionsmitglied von Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung.

Eine menschenähnliche Figur, aus unzähligen verschiedenen Glühlampen zusammengesetzt.

My Light is Your Life
Krištof Kintera, Prag, 2009
Lampen, Kabel, Elektronik, ca. 470 x 450 cm
Foto: Courtesy of Krištof Kintera

Zitierempfehlung:

Anna-Dorothea Ludewig (2016), My Light is Your Life. Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4688

Golem als Actionfigur (Ausschnitt)

Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis

Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
Kapitel 1
Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
Aktuelle Seite: My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
Avatare – von Louisa Hall
Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
Kapitel 2
Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
Kapitel 3
Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
Rituale – von Christopher Lyon
Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
Über den Golem – von David Musgrave
Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
Kapitel 4
Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
Golem-Variationen – von Peter Schäfer
Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
Kapitel 5
Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
Kapitel 6
Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
Kapitel 7
Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
Siehe auch
GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017

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