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Eine Art Familien­treffen

Bittere Kräuter und ihre Verwandten im Garten der Diaspora

Illustration der Bitterkräuter in schwarzer Zeichnung auf weißem Hintergrund

Illustration der Bitterkräuter; Jüdisches Museum Berlin, Illustration: Nils Hoff, 2017

Es ist Seder und die Familie kommt zusammen. Einige reisen von weiter weg an, die anderen gedeihen vor Ort ganz gut. Am Tisch sitzen Endivie, Kopfsalat, Petersilie, Kohlrabi, Chicorée und Löwenzahn. Doch was ist mit Meerrettich und Radieschen? Beide sind dieses Jahr spät dran.

So oder so ähnlich könnte die Erzählung über Pflanzen und Früchte beginnen, die auf dem Seder-Teller zu Pessach eine Bedeutung haben. Sie alle gedeihen im Garten der Diaspora, der im Inneren der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums zu erleben ist. Dabei handelt es sich um eine Art Grünskulptur der Landschafts­architekten le balto, die in Zusammenarbeit mit dem Museum und insbesondere unserer Bildungsabteilung entstanden ist. Als Botanikerin und offizielle Garten­beauftragte mache ich meinen Gang durch die vier langen Plateaus, zupfe hier ein braunes Blättchen, biege frische Triebe in die richtige Richtung, erfreue mich an den ersten Blättern der Erdbeere und schaue mir an, welche der bitteren Pflanzen über den Winter gekommen sind. Der Andorn hat den Winter nicht überlebt und ich werde die Gärtner bitten, neuen zu pflanzen.

Gelber Ton-Teller mit verschiedenen Kräutern und Gemüse, hebräisch beschriftet

Diesen Seder-Teller aus Ton gestaltete Shlomit Tulgan für unsere Kinderausstellung zu Pessach; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Kinder spielen mit Schwungtuch in einem Indoor-Garten

Bei unserem Ferienprogramm 2016 nutzten die Kinder auch den Garten der Diaspora; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Tanja Petersen.

Auf dem Seder-Teller gibt es bittere Kräuter in doppelter Ausführung, denn die Erinnerung an die Unfreiheit der Sklaverei in Ägypten und die damit verbundene Bitterkeit ist ein wichtiges Narrativ. Gleich drei jahres­zeitliche Feiertage – Pessach, das Wochenfest Schawuot und das Laubhüttenfest Sukkot – erinnern an den Auszug aus Ägypten, die Übergabe der Gesetze und die Wanderschaft in der Wüste. Seit Beginn ihrer Existenz mussten Jüdinnen und Juden mit einem Leben im Spannungsfeld zwischen Diaspora und Heimat umgehen. So beschäftigt die jüdische Gemeinschaft auch seit jeher die Frage, wie Juden in der Diaspora herkömmliche, schwer beziehbare Nahrungsmittel und Ritualspeisen mit dem Möglichen substituieren und so die Traditionen erweitern und fortschreiben.

Die Mischna führt fünf bittere Kräuter an: Lattich, Gänsedistel, Endivie, Eryngium und andere „Salate“. Dabei sollten die Blätter frisch oder welk genossen werden und nicht aus dem Vorjahr stammen. Eine andere Übersetzung nennt als „Gemüse, mit denen ein Mensch seine Pflicht am Pessach­fest erfüllt: mit Kopfsalat, mit Endivien, mit Kerbel, mit Mannestreu oder Bitterkraut“ (aus: Die Mischna. Festzeiten Seder Mo´ed. Übersetzt und herausgegeben von Michael Krupp).

Meerrettich wird hier nicht genannt. Dieser gehört ebenso wie die bekannten Salat­arten und -sorten, wie Ruccola und Senf zu den Kreuz­blütlern, während die meisten anderen in der Mischna genannten Pflanzen wie Eryngium, Wegwarte, Gänsedistel und Löwenzahn Korbblütler sind, also zur Familie der Asteraceae gehören. Noch konfuser wird es, wenn man bedenkt, dass Meerrettich (Armoracia rusticana) zwar zur Großfamilie der Kreuz­blütler gehört, aber nicht näher mit den anderen Retticharten der Gattung Raphanus, wie zum Beispiel dem Radieschen, verwandt ist. Er ist also eher ein angeheirateter Schwager beim Pessachfest.

Wie also kommt der Meerettich, der nicht bitter, sondern scharf ist, auf den Seder-Teller? Tatsächlich hat Meerettich nicht immer zu den ausgewählten Speisen des Seder gehört, ist aber seit dem Mittelalter im aschkenasischen Judentum nicht mehr wegzudenken. Im Hebräischen steht auf dem Seder-Teller oft das Wort maror, wobei maror (=bitter) Meerrettich oder Bittersalat sein kann, während die zweite Symbolspeise, das Chasseret ein anderes bitteres Kraut ist. Rettich wurde Mitte des 12. Jahrhunderts erstmalig in der rabbinischen Literatur erwähnt und sein Gebrauch unter Gelehrten zwei Jahrhunderte diskutiert. Die Geschichte des Meerrettichs auf dem Seder-Teller und seine Zulassung als eine der fünf bitteren Arten, die die Mischna vorgibt, spiegelt die Mobilität von Jüdinnen und Juden und die Gründung von wachsenden jüdischen Gemeinden in der Diaspora im europäischen und osteuropäischen Raum im 12. bis 18. Jahrhundert wider. Denn oftmals waren die vorgeschriebenen Pflanzen nicht zu beziehen oder der Verzehr frischer, junger Blätter umso unwahrscheinlicher, je weiter man in den klimatischen Nordosten kam. Gärten und Landschaften waren zu Pessach mitunter noch schneebedeckt.

Der Seder-Teller, was er beinhaltete, aktuell beinhalten kann und die neu hinzu­gekommenen Symbol­speisen oder Pflanzen­arten zeigen die Komplexität und lange Entwicklung dieses Festes. Meerrettich mit seiner symbolischen Bedeutung erinnert nicht nur mit besonderer Schärfe an die bittere Sklaverei und die erzwungene Migration, sondern ist selbst symbolisches Produkt dieser Migrationsgeschichte.
Vieles ist heute nicht mehr bitter, weil jahrhunderte­lange Züchtungen die Bitterstoffe haben verschwinden lassen. Wer es wirklich bitter haben möchte, dem sei der Verzehr von Feldfrüchten aus dem Garten der Diaspora ans Herz zu legen, denn durch die unnatürlichen Standort­bedingungen und die fehlende Sonnen­einstrahlung schmecken hier auch handelsübliche Sorten holzig und bitter, beinahe ungenießbar.

Unabhängig von der tatsächlichen Auswahl der Bitter­kräuter für den Seder-Abend wird es bestimmt ein schönes Familienfest mit Verwandten und Anverwandten.

Chag Pessach Sameach 5777!

Tanja Petersen studierte Geschichte und Biologie. Für das Jüdische Museum Berlin vermittelt sie seit über 15 Jahren komplexe Inhalte und kulturwissenschaftliche Themen an Besucher*innen.

Frau arbeitet an Hochbeet in einem Indoor-Garten

Besucherin im Garten der Diaspora am Tag der offenen Akademie 2015; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Hanna Wolf

Zitierempfehlung:

Tanja Petersen (2017), Eine Art Familien­treffen. Bittere Kräuter und ihre Verwandten im Garten der Diaspora.
URL: www.jmberlin.de/node/7471

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